Philosophie und der Hunger – Ist Welthunger ein überschätztes Problem? (Teil 1)

Philosophie und Hunger warum sollten diese beiden „Sachverhalte zueinander passen? Nun die Philosophie beschäftigt sich mit den Grenzen unserer Erkenntnis. Wenn es stimmt, dass die Grenzen unserer Erkenntnis in einer philosophischen Frage, nämlich in der Frage „Was ist der Mensch“ verborgen liegt, dann liegt es unter anderem nah die existentiellen Bedrohungsszenarien aufzusuchen und ihren Durchstoß zur so genannten philosophischen Existentialität zu untersuchen. Wie bedroht der Hunger uns Leben und wie erlangt er dadurch philosophische Bedeutung? Gerade für Asketen spielte diese Möglichkeit der philosophischen Selbstzurücknahme immer wieder einen Weg in die philosophische bis religiöse Erkenntnis. Bevor wir diesen philosophischen Weg allerdings gehen, möchte ich zunächst das Problem des Hungers überhaupt betrachten und zeigen, dass wir in unserer Gesellschaft tatsächlich den Hunger zunehmend besiegen.

Hunger als philosophisch-existentiale Bedrohung
Hamsun schreibt in seinem Roman „Hunger“:

„Ich hatte es ganz deutlich bemerkt, immer wenn ich längere Zeit hungerte, war es gleichsam, als rinne mein Gehirn langsam aus dem Kopf und als würde er leer. Das Haupt wurde leicht und abwesend, ich fühlte seine Schwere nicht mehr auf meinen Schultern, und ich hatte das Gefühl, dass meine Augen allzu weit geöffnet glotzten, wenn ich jemand ansah.“

In dem Roman „Hunger“ verfolgt der Leser den Bewusstseinsstrom eines Mannes, der unter der psychischen Belastung des Hungers, um ein Leben in Würde kämpft. Der Roman lehrt: Es mag sein, dass einige elegante Männer durch die Welt spazieren. Der Stil zeigt sich aber nicht darin, dass einer sich einkleiden kann, wie es ihm mit unermesslichen finanziellen Möglichkeiten beliebt, sondern, dass er mit der Armut sich noch die entsprechende Würde in einer umfassenden Philosophie zu geben weiß.

Philosophie und der Wahnsinn des Hungers
Natürlich gilt dieses philosophische Gebot der Würde nicht absolut. Als am 20. November 1820 der Walfänger Essex von einem Pottwal gerammt wurde und schließlich sank, begannen die Matrosen, die sich auf kleinen Walfangbooten gerettet hatten, nach mehreren Wochen die ersten Toten zu verspeisen. Bald schon losten die halb verhungerten Seeleute aus, wer als nächstes getötet werden würde. Als sie schließlich von einem anderen Walfänger gerettet wurden, heißt es:

„[D]ie Haut mit Geschwüren übersät, nagten die Schiffbrüchigen mit hohlwangigen Gesichtern an den Knochen ihrer toten Kameraden. Selbst als schon die Retter herbeieilten, wollten sie nicht von ihrem grausigen Mahl lassen.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Essex_%28Walfangschiff%29)

Es steht uns nicht zu, ad hoc über dieses Verhalten philosophisch-moralisch zu urteilen. Die Entscheidung ist die Wahl zwischen Pest und Cholera, entweder elendig sterben oder menschenunwürdig überleben. In der Philosophie heißt es, insofern bei einem Schiffsbruch noch ein Stückchen Holz im Meer treibt und dieses Stückchen Holz nur einen tragen kann, dass jeder das Recht hat, um sein Leben gegen Andere zu kämpfen und so ist es nicht nur philosophisch, sondern auch in unserer Rechtssprechung. Ich erspare dem Leser hier weitere kannibalischen Beispiele, möchte aber anmerken, dass aufgrund solcher Einsichten auch zum Tode Verurteilte rückwirkend begnadigt worden sind. Vorrangig zeigen uns diese Beispiele zumindest philosophisch, dass Hunger den Menschen zurückverwandelt in das Tier, das er ohne die Sicherheit der Kultur wäre. Der Hunger treibt zurück in den Instinkt. Ob weise Philosophen, die ihren Instinkt unter Kontrolle hätten, sich bei einem Schiffsbruch aber geschickter verhalten würden, ist unklar. Womöglich würden Sie darauf bestehen, dem anderen das letzte Stückchen Holz zu überlassen und im endlosen Disput darüber, wer denn nun das Stückchen Holz nehmen solle, ertrinken.

An welche philosophischen Grenzen und der Hunger treibt: Das Floß der Medusa (Le radeau de la Méduse) von Théodore Géricault Quelle: wikimedia

An welche philosophischen Grenzen und der Hunger treibt: Das Floß der Medusa (Le radeau de la Méduse) von Théodore Géricault Quelle: wikimedia

Was Hunger philosophisch für uns bedeutet – Hunger und die Medien

Hunger als Phänomen ist in unserer modernen Gesellschaft in den Hintergrund gerückt. Ich möchte bezweifeln, dass jemand aus Deutschland noch tatsächlich Hungersnöte erleidet, wie es vielleicht nach dem zweiten Weltkrieg der Fall war oder im 19. Jahrhundert als die Versorgungslage in Europa wirtschaftlich noch nicht als stabilisiert galt. In funktionierenden Demokratien, so zeigt es die Statistik, kommt es nur unter extremsten Ausnahmebedingungen zu Hungersnöten. Zunächst ist für eine philosophische Näherung an das Hungerproblem Folgendes relevant: Was wir im Alltag zumeist als Hunger bezeichnen, stellt eigentlich Appetit dar und ist nicht zu vergleichen mit den Qualen, die mit wochenlangem Nahrungsentzug einhergehen. Wir kennen das Problem des Hungers als Bürger reicher Industriestaaten in der Regel nicht mehr und haben maximal eine Ahnung davon. Auch in den Medien werden wir kaum noch mit Hungernden Menschen konfrontiert. Angesichts der 900 Millionen hungernden Menschen (Quelle: Wikipedia) wird nun schnell vermutet, dass die Medienlandschaft stumpf geworden ist, über dieses Problem zu berichten. Wir vermuten, dass unsere abstruse Werbeindustrie ein Problem, das seit Jahrzehnten existiert, nicht mehr als neuartige Information verkaufen kann und daher ignoriert. Nun findet aber in unserer Wahrnehmung ein entscheidender Fehler statt. Wir vermuten doch, dass diese 900 Millionen Hungernde nah am Hungertod darben. Rein logische Ãœberlegungen zeigen aber, dass das nicht der Fall sein kann. Würden nämlich von diesen 900 Millionen jährlich auch nur die Hälfte tatsächlich am Hungertod sterben, so würde sich die Weltbevölkerung schnell um den Anteil der Hungernden dezimieren. Generell würde bei dieser Masse an stark Hungernden die Weltbevölkerung schnell zusammenschrumpfen. Nach 10 Jahren wären die Menschen vom Erdboden verschwunden. Hunger, wie er hier also als Term gebraucht wird, ist aus diesem Grund nicht zu verwechseln mit einer akuten Hungersnot. Tatsächlich bezeichnet Hunger hier „nur“ die tägliche Unterversorgung und der Mangel an bestimmten Nahrungsmitteln (http://one.wfp.org/german/?n=32). Mit dieser Umdeutung des Begriffs „Hunger“ tritt aber ein erhebliches Interpretationsproblem auf, dessen sich die meisten nicht bewusst sind und dies ist für uns auch philosophisch relevant, denn es interessiert uns ja gerade die Grenzerfahrung des Hungers, derer sich beispielsweise auch viele Asketen wie Philosophen bedienten. Was genau wird nun als Hunger gewertet?

Die Vier apokalyptischen Reiter von Dürer. Quelle: wikimedia. Der Hunger war lange Zeit eine extreme Bedrohung der Menschheit.  Im Mittelalter galt der Hunger noch als eine der Plagen, die die Menschheit vernichten würden. Heute hat er diese apokalyptisch-philosophische Bedeutung verloren

Die Vier apokalyptischen Reiter von Dürer. Quelle: wikimedia. Der Hunger war lange Zeit eine extreme Bedrohung der Menschheit. Im Mittelalter galt der Hunger noch als eine der Plagen, die die Menschheit vernichten würden. Heute hat er diese apokalyptisch-philosophische Bedeutung verloren

 

8,8 Millionen Hungertote jährlich
Welche Versorgung wird als derart vollwertig betrachtet, so dass wir nicht von Hunger reden müssen? In den Medien wird an dieser Stelle immer wieder aufgetischt, dass in den armen Familien zum Beispiel überhaupt kein Fleisch auf den Tagesplan kommt. Fleisch aber ist für eine vollwertige Ernährung nicht notwendig (zumindest wenn eine hohe Lebenserwartung als notwendiges Kriterium gezählt wird, sind die Statistiken eindeutig). Wird Fleisch tatsächlich zu einer vollwertigen Ernährung gezählt, so zählen dann alle Vegetarier auf der Welt als Hungernde? Das wären dann 700 Millionen Hungernde. Das möchte ich dem Hungerindex natürlich nicht unterstellen, aber das Verhältnis von 900 Millionen Hungernden zu 8,8 Millionen tatsächlich Hungertoten wirft die Frage auf, was denn das ganze nun bedeuten soll. Ich gehe nun davon aus, dass wir eher von einem geringer dramatischen Gerechtigkeitsproblem sprechen als von einem tatsächlich akuten Problem, das alle Handlungsgewalt in uns mobilisieren müsste. Ich denke, dass wir im Grunde die Lebensweise der westlichen Welt mit weniger industrialisierten Ländern vergleichen und dabei bemängeln, dass die Versorgung in anderen Staaten viel schlechter ist als bei uns. Selbstverständlich ist dieser Vergleich berechtigt, aber die Ergebnisse sind dann keineswegs so dramatisch, wie es sich zunächst anhört, wenn wir mit Hunger undifferenziert Hungertod verbinden.

Verbesserung der weltweiten Lebensumstände seit dem 19. Jahrhundert weltweit
Es könnte doch sein, dass das weltweite Hungerproblem sich mit der Industrialisierung nicht verschärft, sondern unter gewisser Betrachtung entschärft hat. Das ist natürlich ein Stachel im Genick derer, die die moderne Gesellschaft philosophisch veruteilen und glauben, dass eine in Lagerfeuerromantik getauchte Steinzeitgesellschaft den Tisch von der Natur von selbst gedeckt bekommen hat. Hans Rosling zeigt in seiner genialen Animation hingegen, dass noch im 19. Jahrhundert alle Staaten, was die Lebenserwartung anbelangt, bei einer sehr ähnlichen Ausgangsposition starten. Mit der Industrialisierung verändert sich dann das Lohnniveau vieler Staaten und gleichzeitig steigt die Lebenserwartung. Die Lebenserwartung aber steigt auch in den afrikanischen Staaten, bei denen sich das Einkommen nicht verändert. Ich deute das ganze nun so, dass wir davon ausgehen können, dass der weltweite akute Hunger (Hungersnot) so dezimiert worden ist, dass wir gestiegene Lebenserwartungen weltweit haben (die medizinische Versorgung darf dabei natürlich auch nicht unterschätzt werden). Insofern aber gibt es tatsächlich weniger fatalen Hunger als früher.

Wer ein bisschen mit dem Gapminderprogramm von Hans Rosling experimentieren möchte, kann auf folgendem Ling den Gapminder finden. 

Natürlich tritt hierbei ein gewisser Fahrstuhleffekt auf. Da sich die Lebensstandards in den westlichen Staaten dermaßen gewandelt haben, fordern wir diese Lebensstandards auch für die anderen Staaten, denn mit welchem Recht sollte das Privileg der Geburt in einem westlichen Land rechtfertigen, dass es diesen Menschen nun besser gehen dürfe? Eine leistungsgerechte Gesellschaft kann sich diese Ungleichheiten nicht leisten. Wir fordern also von einer höheren Etage, den Standard unserer Lebensweise für alle ein und auch nur dieser Status der Verallgemeinerbarkeit von Lebensweisen sollte als Prüfkriterium für philosophisch-moralische, gerechte Gesellschaften gelten. Das Problem aber am Welthunger nun ist, dass uns falsche Vorstellungen von Drittweltländern vermittelt werden. Es handelt sich nämlich oftmals nicht um akute Probleme über die wir uns den Kopf zerbrechen müssten und unsere Regierungen zum soforten Umlenken bewegen müssten, sondern um weitreichende, komplizierte, strukturelle Änderungen, die durch keine einzelne philosophische Idee, sondern nur durch das Mitwirken vieler Menschen in einem langsamen, aber dafür beständigen Prozess umgesetzt werden können.

Bis hierhin also erstmal, die Fortsetzung findet ihr unter meinen früheren Beitrag, dort werde ich die Frage nach planwirtschaftlicher Umverteilung stellen und auf eine eigentliche Ursache des Hungers, nämlich den Krieg, zu sprechen kommen. Die nächsten Tage werde ich mich dann meinem eigentlichen Ziel zuwenden und den Hunger mit der Philosophie in Verbindung bringen. Gerade für Asketen spielt in der Möglichkeit das Jenseits zu erfahren eine bedeutende philosophische Rolle. Ich würde mich natürlich freuen, wenn ihr von einer der zahllosen Abo-Möglichkeiten Gebrauch macht oder meinen Beitrag weiterempfehlt.

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