Kultur als endliches Prinzip im unendlichen Prinzip der Natur: Interview mit Prof. Dr. Eisleben

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Im Gespräch mit Alfred Eisleben: Picture by Helgi Halldórsson from Reykjavík, Iceland CC-BY-SA-2.0

Seit nunmehr 40 Jahren lebt der Deutsche Alfred Eisleben mit seiner Frau Adele Schümer in seinem freigewählten Exil in Island. Nach dem zweiten Weltkrieg hat es ihn aus Deutschland fortgetrieben. Als Winterprofessor an der Carlson University (Pittsburgh) hat er mir ein Interview zum Begriff Kultur gegeben.

Entgrenzen: Herr Prof. Eisleben, Sie haben gut 80 Jahre Geschichte bewusst erlebt, wie schätzen Sie die Leistungen der menschlichen Zivilisation in diesem Zeitabschnitt ein?

Eisleben: Kulturleistungen sind nach Aristoteles Umgestaltungen der Natur. Das heißt, wir implementieren in die Natur der Natur fremde Prinzipien, und das obwohl die Natur ein Prinzip der Bewegung in sich selbst enthält. Es ist eine gefährliche Operation am offenen Herzen. Wir wühlen in diesem lebendigen Leib der Natur herum. Schließlich geht es dahin, das Herz der Natur ein für alle Male austauschen zu wollen.

Entgrenzen: Wenn ich da kurz einhaken darf. Sie meinen also, Kultur ist ein Eindringling in die Natur?

Eisleben: In einem gewissen Sinne drängen wir in unbeherrschte Räume. Aber so einfach ist das natürlich nicht. Kultur, dieses der Natur fremde Prinzip, dieses Herzstück kann doch aber die Natur nur nachahmen. Verstehen sie, auch wenn sie ein künstliches Herz einpflanzen, es muss doch die gleiche Struktur haben, andernfalls funktioniert das ganze nicht. Dieses künstliche Herz soll die Bewegungen, die in der Natur sind, imitieren und muss sie imitieren. Das bedeutet, die Kultur ist an sich kein eigenständiges Prinzip, sondern wie eben ein Herzstück in die Natur eingebettet. Für uns heißt das, wir leben nicht auf Wolken der Freiheit, sondern so weit wir auch über die vermeintlichen Grenzen der Natur hinaus träumen, wir stehen mit unseren Beinen in der Wirklichkeit. Wir sind Teil eines lebendigen Organismus, der wirklich leidet und sich freut, sich selbst verändert, aber stets doch nicht die endliche Einrahmung, diese Einklammerung in eine Naturgewalt übersteigt. Was sind also Kulturleistungen? Es sind Freuden- und Schmerzensschreie einer sich in Prinzipien entwickelnden und drängenden Natur. Ein ständiges Schlagen dieses einen Herzens ins uns, der Natur und allem was so unerkannt unser fremdes Sein durchwaltet.

Entgrenzen: Das heißt, wenn ich das zusammenfassen darf: Wir können eigentlich nicht das tun, was wir wollen, denken oder phantasieren, sondern eigentlich nur, was die Natur ohnehin schon zulässt. Das heißt Kultur ist etwas Fremdes für uns, so wie wir uns auch selbst fremd sind. Dennoch versuchen wir über die Natur hinaus zu kommen. Sind Kulturleistungen nicht der Ausbruch aus den Einkörperungen der Natur?

Eisleben: Wenn dann sind Kulturleistungen höchstens Grenzverschiebungen? Diese Weltspende, das fremde Herz in uns, bleibt doch auch vertraut. Verschiebungen zwischen Fremden und Eigenem bewegen sich dann in den Auf- und Untergangsrhythmen der Herz-Zeit. Wir befreien uns nicht von der prinzipiellen Eingeschlossenheit in die Weltspende, sondern sind ihr lebendiges Prinzip. Wir können diese erkenntnistheoretische Einkapselung in Endlichkeit nicht durch einen konträren Schritt ins Unendliche überwinden. Wir sind verloren in den Grenzen des unendlich Gegebenen als elende Endlichkeit. Wir sind Endlichkeit und Unendlichkeit zugleich.

Bei dieser Verkaspeslung erlebt selbst der diamantene Realitätskern, ich meine die Logik, ständig neue Kompressionen. Dieser Realitätskern der Logik ist so zwischen den großen Horizontlinien der menschlichen Erkenntnis zerrieben, dass es mir beinah falsch erscheint von der Welt als in Stein geschlagen auszugehen. Das Denken sollte doch eher flüssiger erscheinen. Aber auch das Flüssige hat seine Viskosität und Textur.

Heißt das aber, dass wir deswegen eine unendliche Reise ins Ünmögliche antreten? Unmöglich weil jeder Schritt zu den Horizonten den Horizont einen Schritt in die Ferne treibt? Ach verstehen Sie! Wenn Menschen davon träumen mit Lichtgeschwindigkeit zu reisen, so leben sie in einem Innenraum, der mit der realen Entäußerung des Geistes wenig zu tun hat. Wir wissen so wenig über unsere zukünftigen Möglichkeiten, aber Lichtgeschwindigkeit können wir aus unseren gegenwärtigen Möglichkeiten zu träumen streichen.

Entgrenzen: Sind nicht vielleicht diese unmöglichen Phantasiereisen das Gefährliche am Menschen? Wäre die Natur nicht besser, wenn sie in Einsamkeit dahinvegetierte?

Tokyo Skytree view

Umgestaltung aller natürlichen Horizonte - Nur noch mensch-manipuliertes Milieux

Prof. Eisleben: Ich kann das nicht hören, dass die Natur den Menschen nicht verdient hätte, denn die Natur ist im Menschen und alles, was der Mensch tut, ist ebenso in der Natur. Die Grausamkeit der Welt, ist die Grausamkeit, die in uns als Welt ist und sich als Welt nach eisernen Gesetzen des Leids zulässt. Die Menschheit begreift das Sein vor den Horizonten des Leides und des Seins, aber diese Momente sind nicht voll und ganz auf unser Konto verbuchbar.

Entgrenzen: Mit dem Thema sprechen sie auch ihr Buch an, das als eine Art buddhistische Replik auf „Sein und Zeit“ von Heidegger daher kommt: „Sein und Leid„.

Prof. Eisleben: Nun sie haben Recht, mir erscheint das Leid der Welt ist ein wesentlicherer Kern des Seinsverständnisses als Heideggers permanentes Entwerfen auf Möglichkeiten hin.

Doch verstehen sie den Titel nicht falsch, der schließlich nur ein Teil einer breiteren Lebensanalyse ist, denn auch die Gnade gehört zu uns, nämlich die Idee, dass wir nicht allen vermeinten Naturfordernissen entsprechen müssen.  Dieses versteht die Egophilosophie der Rational-Choice-Amerikaner nicht, ebenso wie es das Heer der Menschenverachter nicht genau versteht.

Dass Menschen sich entscheiden, macht überhaupt erst möglich, dass wir den Menschen verwünschen. Ich glaube, dass daher die Natur schließlich alle Lebewesen vor diese Fragen bringt. Nach uns sind ja dann nach futuristischen Modellen die Kakerlaken dran, das moralische Gewicht der Welt zu stemmen. Aber sagen wir es einfacher: Am Menschen ist das Gefährliche zugleich auch das, was die Vision der Rettung ist und Rettung ereignet sich in den Utopien einer menschlichen Gnädigkeit allen Wohlstand zu gönnen, ohne auf ihre angebliche Leistung herabzublicken. Schauen Sie jede Technologie, die Negatives bringen sollte, entdeckten Menschen auch als Ressource. Atomkraft vermochte dieses sein, denn sie war ursprünglich nur im Dienst der Bombe. Ich hatte damals noch als junger Wissenschaftler Kontakt zu Oppenheimer, grausam, was diese Frage mit ihm machte. Daher bevor wir hier dem Zukunftsoptimismus das Wort reden und bevor wir in eine eindeutige Metaphysik des Optimus abdriften, muss ich auf die Untertöne verweisen. Die Hoffnungen der Menschheit, die positiven Technologien geraten zu Machtinstrumenten und produzieren sehr schnell auch Ungleichgewichte. Dann kommt das Sein nicht ohne Leid aus. Nehmen Sie zum Beispiel das Internet, wie es sich nun langsam aus einem Sinnstrahl der Hoffnung in ein Instrument der Kontrolle verwandelt, so geht es zwischen den Möglichkeiten hin und her. Deswegen müssen wir Heidegger ermahnen: Es geht nicht nur um Entwerfen auf Möglichkeiten hin, sondern es geht auch um das Leben überhaupt.

Aber auch noch Eines: Wir machen stets einen Fehler in unseren Analyse: Wir glauben hinter diesem Weltenpendel stünden dunkle Mächte. Das Böse aber entsteht im Schwung aus dem Guten. Meine erste Replik auf Heidegger sollte dieses in den Nachkriegswirren zum Ausdruck bringen, aber wer könnte den Wandel von Krieg und seine Transformationen wirklich aufhalten?

Entgrenzen: Heidegger hat ihr Buch nach eigener Aussage nicht gelesen. Sinngemäß, da wir alle wüssten, dass sie seinen Ansatz nur ausdifferenziert hätten.

Eisleben: Ja, das ist das Schicksal der verpassten Chancen während des zweiten Weltkriegs. Die Rezeptionsphase war mir nicht gegönnt und Heidegger, der heimliche König, hat dabei natürlich eine passiv aggressive Rolle gespielt. Aber das ist alles Historie und „seinsgeschichtlich“ natürlich uninteressant.

Entgrenzen: Ich werte dies als ironisch. Aber kommen wir zurück zum Thema: Sie meinen also die Natur ist ein Prinzip, dass Kultur in Entscheidungskämpfe zwingt?

Prof. Eisleben: Ja, das möchte ich so sagen.

Entgrenzen: Die Natur ist also das höhere Prinzip vor der Kultur?

Prof. Eisleben: Ich glaube wir bewegen uns evolutionsgeschichtlich eigentlich nicht von der Natur weg, sondern in die Natur als ihr wirkliches Wesen hinein. Das heißt, wir erforschen die Dimensionen der Unendlichkeit der Natur durch die Endlichkeit unserer Kultur.

Entgrenzen: Haben sie für eine solche Teleologie ein Beispiel?

Prof. Eisleben: Schauen Sie, wir glauben, wir könnten die Natur durch einfache Prinzipien zum Ausdruck bringen. Dieses mag im logischen Raume der Metaphysik gelten. Wir wissen, dass die Welt sich nach der Bildung von möglichen Oppositionen beschreiben lässt und machen uns das häufig zu Nutze. Die Farbe grün muss zum Beispiel Gegensätze haben, ansonsten würden Sie nur graue Suppe sehen, mit anderen Worten: Nichts. Diese formale Dimension der Metaphysik kann aber nicht an die tatsächliche Differenzierung der Natur heranreichen. Nehmen sie ein Gemälde. Ich kann sehr wohl das Prinzip meiner optischen Umgebung verstehen und ein verlässliches Bild dieser Umgebung erstellen. Im Hyperrealismus ist das sogar mit erstaunlichen Ausmaßen möglich [unter folgendem Link finden sich solche hyperrealistischen Bildwerke], aber der Unterschied zwischen einem hyperrealistischem Bild von einem Baum oder gar einer Fotografie von einem Baum und einem wirklichen Baum ist doch ersichtlich. Der Baum hat eine elementare Unendlichkeit nach innen. Ich kann heran gehen und in die Tiefe unendlich hinabsteigen. Bei einem Bild im Gegensatz entdecke ich irgendwann nur noch Pixel, Farbe, die selbst nur Natur ist. Wir verstehen hier nur mit einem Prinzip der Gegensätze: Farben haben Oppositionen etc. Bis jetzt kommen wir damit aber nur bis zur Kunst, nicht aber in die Natur hinein und schon überhaupt nicht über die Natur hinaus.

Entgrenzen: Ich verstehe, Sie meinen also, dass wir die Natur nicht in ihrer Fülle erfassen, aber das ihre Erfassung ein Ziel ist…

Prof. Eisleben: Ja, das meine ich. Es ist daher nicht die Veränderung der Natur, der unser Sinn ist, sondern die Natur selbst. Ich behaupte gar, dass der Begriff der Natur ein Gestrüpp und unentzifferbares Geflecht in uns ist. Ein Dschungel der Prinzipien. Dennoch aber tappen wir zu häufig in die Falle der Selbstüberschätzung. Der Durchschnittsverbraucher glaubt zum Beispiel, dass der menschliche Körper sich aus ein paar Organen und chemischen Reaktionen zusammensetzt. Wir begegnen dann im Alltag sehr schnell den esoterischen Überzeugungen, dass die Medizin versagt, weil die Grundprinzipien ja sehr schlicht wären. Versagen der Medizin erklärt sich der Durchschnittsbürger dann schnell durch böse Pharmakonzerne, die die Grundprinzipien einer heilen und harmonischen Welt nicht einsehen wollen. Nun verneine ich natürlich nicht, dass in der Pharmaindustrie solcherlei Hintermänner am Werk sein mögen. Aber diese Erklärung gerät zu einer Universalerklärung. In anderen Worten solche Verschwörungstheorien sind eigene Zentren der Macht. Tatsächlich kann es aber auch sein, dass Krankheiten nicht nur Erfindungen von der Pharmalobby sind, sondern tatsächlich vorkommen.

Entgrenzen: Was hat das aber mit Selbstüberschätzung des Menschen zu tun?

Prof. Eisleben: Nun, wir tendieren dazu, unsere einfachen Hypothesen für die Wahrheit zu nehmen, obwohl diese Wahrheit wie der eben erwähnte Baum superkomplex ist, unendlich nach innen,und nicht mit den Bildkarten unserer Phantasie vollständig verstanden werden kann. Bei den ganzen Esoterikern erscheint es mir, als würden ein paar Menschen Sammelkarten von Wirklichkeitsausschnitten auf dem Schulfhof tauschen. Mehr ist das meines Erachtens nicht, was da häufig passiert.

Entgrenzen: Können sie etwas konkreter werden?

Prof. Eisleben: Durchaus. Der Verdacht gegen die Pharmalobby erscheint mir psychologisch einem Einfachheitsglauben zu entspringen. Ein anderes Beispiel: Viele glauben, es würde allein eine Steinzeiternährung reichen, wobei wir einfach auf Zucker verzichten und schon würden wir alle nahezu unsterblich sein.

Entgrenzen: Das ist aber übertrieben!

Prof. Eisleben: Es ist nicht übertrieben, wenn diese Esoteriker glauben, jede Krankheit ließe sich damit heilen oder wir könnten uns davor bewahren. Hier liegt die Selbstüberschätzung in der vermuteten Einfachheit der Welt: Wir abstrahieren ein Prinzip und strapazieren schnell die Möglichkeiten seiner Anwendung. Esoteriker haben jedoch nur ein Bild vom menschlichen Körper. Wissenschaftler hingegen betrachten ihn aus verschiedenen Perspektiven. Gehen wir beispielsweise in die Gegenwartsforschung hinein. Eine befreundete Wissenschaftlerin versucht hier die verschiedenen Anti-Körper-Reaktionen im Immunsystem speziell im Magen von Pferden zu erforschen. Doch bei der Superkomplexität tut sich sogleich ein Gebiet auf, dass den menschlichen Geist rein zeitlich überragt. Wir wissen, dass wir mit einer Kategorisierung dieser Immunsysteme noch lange nicht überhaupt ein grundlegendes Verständnis erreicht haben. Die Natur ist nun mal nach innen ein offener Horizont. Womöglich ist der Versuch diese Immunssysteme zu kategorisieren ähnlich erfolglos wie das Vorhaben, jedem Menschen auf der Welt im Leben die Hand zu schütteln. Es gibt einfach zu viele Verästelungen an Gattungen, denen wir folgen müssten. Das heißt die Welt ist alles andere als einfach. Esoteriker aber machen uns weiß, dass die Welt im Grunde einfachen Prinzipien folgt. Dieses Denken ist mir zu provinziell. Nehmen Sie Thorwald Detlefsen. In seiner Literatur versucht dieser tatsächlich Kranken einzureden, dass sie mit einer schlechten Lebenseinstellung an ihrem Schicksal selbst schuld wären. Wenn dann Menschen untereinander gerade die Kranken einer Gesellschaft nach diesen simplen Weltbildern behandeln, dann handelt es sich um Selbstüberschätzung. Selbstüberschätzung die uns kulturell an den Rand der lebensbedrohlichen Verzweiflung treibt.

Entgrenzen: Sie sagen also, dass wir im Hinblick auf die Welt ohne letztgültiges Wissen verbleiben und dass unsere Möglichkeiten, Wissen zu erreichen notwendig begrenzt sind? Der Mensch ist hinsichtlich seiner Natur offen, aber hinsichtlich seiner Kultur begrenzt?

Prof. Eisleben: Im Hinblick auf das Verständnis der Natur, ja. Da sind wir begrenzt. Im Hinblick auf unsere Kultur: Nein. Auch die Kultur des Menschen ist wie die Natur unendlich nach innen. Die Natur gibt einen Rahmen, den wir nicht letztgültig erforschen können, innerhalb dessen wir aber agieren. Die Kultur nutzt die Rahmenbedingungen innerhalb des natürlichen Rahmens und rekombiniert auf unendliche Arten Gegebenes. Es wäre aber absurd über die Natur hinaus kombinieren zu wollen. Dieses führte ich ja zuvor schon aus.

Was uns daher wirklich begrenzt  sind unsere, starren Meinungen, die keine Begründung haben. Aristoteles wusste schon, dass unsere Meinungen [Anmerk. Red.: Aristitoles, Metaphysik, Buch XII, 10] in keinem gesunden Verhältnis zum Wissen stehen. Mit anderen Worten Meinungen sind ungesund, denn Meinungen beruhen auf ungerechtfertigten Annahmen, die eben oftmals leider falsch sind.

Entgrenzen: Aber in unserer Demokratie ist es doch löblich eine Meinung zu haben?

Prof. Eisleben: Die Meinungsäußerung ist tatsächlich nicht zu verbieten und es wäre falsch zu glauben, wir könnten Krankheiten des Geistes durch Verbote besiegen. Es verbietet ja auch niemand AIDS, weil es absurd ist. Wie also mit Meinungen umgehen? Ich sage nur anstelle von einer falschen Meinung habe ich doch lieber überhaupt keine Meinung oder was denken sie?

Entgrenzen: Jetzt bin ich mir natürlich unsicher.

Prof. Eisleben: Gerade diese Unsicherheit sollten wir doch kultivieren. Stattdessen verlangen wir von politischen Führern wie Angela Merkel oder Obama, dass sie sich bekennen soll und endlich mal eine Meinung bräuchten. Das sind aber nichts anderes als politische Strategien, die erfolgreich in den Wählern implementiert wurden.

Entgrenzen: Sie sind also ein CDU-Wähler.

Prof. Eisleben: Nein, das bin ich ganz und gar nicht. Ich nutze mein demokratisches Recht und gehe nicht wählen.:

Entgrenzen: Das heißt Sie sind ein Antidemokrat.

Prof. Eisleben: Wenn ein Staat seine Bürger vor die Wahl stellt, dann muss es doch auch ein Recht sein, keine Meinung zu haben. Bedeutet denn Wahlrecht, antidemokratisch zu sein, wenn ich mich entscheide nicht zu wählen? Bedeutet Meinungsfreiheit, dass ich eine Meinung haben muss?

Entgrenzen: Nun ja, Sie ignorieren eine Chance, die viele Menschen in anderen Ländern gerne hätten.

Prof. Eisleben: Ich glaube das ist ihre Meinung, aber für mich hängen da viele Fragen dran, die es zunächst zu analysieren gilt. Als erstes ist doch die Frage, ob wir mit unseren Meinungen etwas verändern.

Entgrenzen: Aber was wenn alle so denken würden…?

Prof. Eisleben: Sie meinen wohl, wenn alle so denken würden und nicht wählen gehen?

Entgrenzen: Ja.

Prof. Eisleben: Na, dann würde ich wählen gehen, weil dann könnte ich ja etwas mit meiner Wahl bewirken und tatsächlich kompetente Personen wählen.

Entgrenzen: Sie haben mich in eine rhetorische Falle gelockt.

Prof. Eisleben: Nein, das habe ich nicht. Es ist nur das Problem von Mikro- und Makroebene, dass wir hier nicht sonderlich gut verstehen.

Entgrenzen: Nun, das verstehe ich natürlich auch nicht.

Prof. Eisleben: Ach, im wesentlichen besagt es nur, dass wir auf Ereignisse, die auf Aggregatsebene geschehen, das heißt auf der Ebene, wo wir das gesammelte Verhalten von Individuen erfassen, keinen Einfluss haben. Individuelle Entscheidungen bewirken nichts in Aggregaten und Sie als einzelner sind unerheblich, wenn sie keine Öffentlichkeitshebel haben. Geben Sie mir einen Öffentlichkeitshebel der groß genug ist, und ich hebe Ihnen die Politik aus den Angeln. Da ich aber keine Hebel besitze bleibt mir nur der Wert der individuellen Entscheidung.

Entgrenzen: Und was ist dann die individuelle Entscheidung?

Prof. Eisleben: Die individuelle Entscheidung ist eine Moralische. Will ich zum Beispiel moralisch handeln, dann könnte es unter gewissen Prämissen notwendig sein, wählen zu gehen.

Entgrenzen: Das heißt dann aber, dass sie wählen gehen müssten.

Prof. Eisleben: Ja, da haben sie schon Recht. Es erscheint mir moralisch, wählen zu gehen. Aber nicht jede moralische Handlung ist notwendig.

Entgrenzen: Das heißt Sie können moralische Handlungen auch unterlassen?

Prof. Eisleben: Ja und zwar dann, wenn meine individuelle Handlung keinen Einfluss auf das Gesamtergebnis hat. Dies ist bei Wahlen zu häufig der Fall. Weil ich aber Wählen als prinzipiell moralisch empfinde, würde ich keinen Öffentlichkeitshebel benutzen, um Leuten zu sagen, nicht zu wählen. Das wäre tyrannisch.

Entgrenzen: Bei aller Bescheidenheit der Öffentlichkeitswirkung dieses Blogs aber: Bedienen Sie nicht gerade einen Hebel?

Prof. Eisleben (lacht): Da haben Sie mich ertappt, aber hier ist doch auch zu erklären, weshalb Politiker sagen müssen, dass Leute wählen gehen sollen, auch wenn sie im Geheimen wissen, dass der Einzelne irrelevant ist.

Aber wissen Sie, ich glaube dennoch, dass wir das Wählen hier zu stark betonen. Ich glaube Demokratien funktionieren anders und wir haben genug Systeme, die zwar Wahlen zulassen, aber dennoch Tyranneien sind. Das heißt, Wählen kann zwar als moralisch bestimmt werden, ist aber aus anderen Gründen moralisch vernachlässigbar. In unseren Kulturen glauben wir tatsächlich, eine Demokratie setze sich hauptsächlich durch Wahlfreiheit und Meinungsfreiheit zusammen. Jedenfalls sind diese beiden Güter das, was wir in der Regel auf den Straßen zelebrieren. Tatsächlich aber sind die Meinungen nur dazu da, um Unzufriedenheit mit den Wahlen medial zu kompensieren. Der autokratischen Staatenmechanik schaden weder Wahlen noch freie Meinungen, wenn die Wahlen und Meinungen in einem System gut kapitalisiert werden können. Das ist heute der Fall, auch wenn es nicht die Dimensionen einer vollständigen Neoliberalisierung annimmt.

Für mich ist daher etwas anderes an Demokratien wichtig und das sind Handlungen, die nicht moralisch vernachlässigbar sind: Engagiere ich mich zum Beispiel sozial, respektiere ich Gesetze, habe ich Zivilcourage, trete ich für Schwache in meinem Umfeld ein oder kann ich andere Lebensweisen tolerieren? Was bedeutet mir Gewaltenteilung oder wie wichtig ist es mir, dass es ein breites Meinungsspektrum gibt, das auf die Ausbildung von tiefgründigeren Wissen hinwirkt?

Entgrenzen: Sie meinen also diese Dinge sind wichtiger als freie Wahlen?

Prof. Eisleben: Nun, ich habe dazu noch nicht genügend geforscht, denn ich bin ja auch nicht primär Soziologe. Wenn wir aber eins in den letzten 100 Jahren gelernt haben sollten, dann dass ein Land mit freien Wahlen noch lange nicht demokratisch ist. In Afghanistan wissen die Leute wenig anzufangen mit den Wahlen, da sich eben alles noch über die sozialen Strukturen organisiert, die wenig mit unserer Sozialkultur zu tun haben. Da sind Lords aufgrund von Abstammungslinien traditionell wichtiger, als was ein paar Meinungsbefreier meinen. Daher gehe ich davon aus, dass freie Wahlen für Demokratien weniger relevant sind.

Entgrenzen: Das heißt also sie glauben, dass Demokratie ein kulturspezifisches Produkt ist?

Prof. Eisleben: Nein, mit meinem früheren Freund Jaques Derrida teile ich die Ansicht, dass Demokratie vielleicht das einzige Konzept ist, dass wir universalisieren können, und dies da es als einziges eine radikale Kritik zulässt. Sobald wir Kritik nicht mehr zulassen, so haben wir auch die Wahrheit aufgegeben. Da ich aber nach Wahrheit suche, wäre es abstrus für mich, die Demokratie aufzugeben.

Entgrenzen: Womit wir wieder beim Thema wären, denn sie wollten mir noch ursprünglich die Frage beantworten, ob sie Angela Merkel unterstützen.

Entgrenzen: Das heißt Sie denken also, dass Angela Merkel das kann.

Prof. Eisleben: Nun Sie ist eine intelligente Physikerin, ihr Mann ist Professor. Ich glaube schon, dass Sie dem Normalbürger etwas voraus hat, so elitär dieser Wissenschaftsglaube auch klingen mag. Sie denkt in kleinen Schritten und legt sich nicht all zu schnell fest. Dadurch hat sie auch nicht immer eine Meinung. Aber ich möchte mich hier auch nicht festlegen und ich kann mir vorstellen, dass nun einige schon Ihre Meinung von mir haben, nachdem ich dies gesagt habe. Aber sehen Sie, das war auch nicht der Punkt. Der Punkt war, dass Menschen Sie eben dafür kritisieren, dass sie keine Meinung hat. Wenn Sie aber tatsächlich keine Meinung hat und alles kurzfristig entscheidet, dann sage ich, genauso stelle ich mir intelligente Praxis in einer Kultur vor. Etwas tun, schauen was passiert und mit den Ergebnissen weiter arbeiten.

Entgrenzen: Damit beantworten sie eigentlich auch schon meine letzte Frage. Wie sieht denn Ihrer Meinung nach eine bessere Kultur aus?

Prof. Eisleben: Eine Impfung gegen die Zivilisationskrankheit Kultur kann eigentlich nur durch Wissen erfolgen, aber ich sehe nicht, dass Wissen derart von Interessen befreit werden könnte, dass es nicht auch irgendwo jemanden nutzt. Hierzu gibt es tatsächlich sehr viel zu sagen, denn mir ist auch klar, dass Wissen sich zu schnell in Machtstrukturen wandelt. Wir haben das ja bereits oben diskutiert.

Entgrenzen: Sie meinen Wissen könnte schlecht sein?

Prof. Eisleben: Selbstverständlich kann Wissen schlecht sein. Schauen Sie doch nur auf ihr Projekt zum bewussten Lernen [bewusstes-lernen.de, Anmerkung der Redaktion], hier geht es darum, wie wir effizienter werden. Das ist nicht unbedingt verkehrt, aber lebenslanges Lernen klingt wie eine Verurteilung und mehr noch, Schüler sollen heute nicht mehr etwas Substantielles lernen, sondern lernen zu lernen. Das bedeutet aber, dass sie lernen, sich ständig zu verändern. Sie werden damit formbare Masse für Marktströme. Ihr Wissen hat dann keinen Eigenwert mehr für ein gelungenes Leben, für eine gelungene Kultur, sondern ihr Wissen ist nur noch eine Rechengröße. Mit ihrem Blog bringen Sie den Leuten Wissen und doch bringen Sie ihnen nur Selbstverleugnung und Selbstverachtung. Ich sehe allerdings auch keine Wege. Adorno sagte mir damals schon, dass in dem Herrschaftsglauben an die menschliche Technik, die Natur schließlich durch die Technik in uns zurückschlägt. Diese These versuche seit meinem gesamten Leben zu erforschen und im Hinblick auf die Intelligenzrevolution versuche ich meine letzten Lebensjahre noch darauf zu konzentrieren.

Entgrenzen: Herr Prof. Eisleben, vielen Dank für das Gespräch.

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Norman Schultz

Pittsburgh, Dezember 2014

 

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Eine Antwort auf Kultur als endliches Prinzip im unendlichen Prinzip der Natur: Interview mit Prof. Dr. Eisleben

  1. Angelika Herrmann sagt:

    Sehr gelungenes Interview fast ein kleines Porträt bedenkenswerte und weiträumige Fragen zum Nachdenken im eigentlichen Sinne, danke

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