Herta Müller – Atemschaukel (Kritik) Von Hunger und Menschlichkeit

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Herta Müllers Atemschaukel (Literaturnobelpreis 2009) ist ein Klagelied aus dem Hunger, aus einer Gefahr, die täglich wie hungriges Getier an einem nagt, aus einer Gefahr, die sich in die Seele wie ein hohles Nichts gräbt und wie ein beständiges, unverwindbares Gefühlstropfen den Seelenstein aushöhlt. Dieses Buch ist auch ein Bericht über die Verwandlungen der Menschlichkeit am Menschen zu dem, was er kausal ist, zu dem, was er sein muss, ein Metabolismus, ein Stoffwechsler und so heißt es bald:

„Wir sind das Gestell für den Hunger“

Der nach dem 2. Weltkrieg deportierte Leo soll als Rumänien-Deutscher in einem Arbeitslager der Russen für die Verbrechen der Deutschen Wiedergutmachung leisten. Unter widrigsten Bedingungen, verlausen die Gefangenen, dürsten nach Wasser, arbeiten bis auf Haut und Knochen und ihr Lebensfokus richtet sich weg von aller Kultur auf nur eines: Brot.

So erbärmlich sich das Leben der Protagonisten daher zeigt, so roh wie die Ungerechtigkeit in die Magenkuhle schlägt, so handlungsarm ist das Buch. Alle Handlungsstränge laufen in der Kargheit des hohlen Hungers zusammen und blühen paradox in poetischer Reflexion auf. Aus der Schaukel zwischen körperlichen Verlangen und der Frage nach innerer Gerechtigkeit entsteht die Poesie des Romans. Es ist die poetische Auseinandersetzung mit dem, was wir als Mechanismus sind:

„Ich wünschte die Herzschaufel wäre mein Werkzeug. Aber sie ist mein Herr. Das Werkzeug bin ich.“

Die Verspannung des menschlichen Lebens in das Kausalwerk einer Welt, dort wo der Hunger unkontrollierbar wütet, zeigt wie Freiheit an unserer Körperlichkeit verschwinden kann. Doch auch bei Herta Müller bleibt ein unverwechselbarer Rest an Poetik vom Menschen übrig. Hinter aller Effizienz, war es Kultur, die den Menschen überlebte und ihn in andere Zeiten trug.

Hunger als existentiales Thema in der Weltliteratur

Hunger ist gängiger Begleiter in der Weltliteratur. Auch Nobelpreisträger Knut Hamsun schreibt hierzu in seinem Roman Hunger:

„Ich hatte es ganz deutlich bemerkt, immer wenn ich längere Zeit hungerte, war es gleichsam, als rinne mein Gehirn langsam aus dem Kopf und als würde er leer. Das Haupt wurde leicht und abwesend, ich fühlte seine Schwere nicht mehr auf meinen Schultern, und ich hatte das Gefühl, dass meine Augen allzu weit geöffnet glotzten, wenn ich jemand ansah.“

In Hamsuns Roman Hunger strömt das Bewusstsein eines Mannes, der unter der psychischen Belastung der Leere, um ein Leben in Würde kämpft. Der Roman lehrt: Es mag sein, dass einige elegante Männer durch die Welt stock und steif spazieren. Der Stil aber zeigt sich nicht darin, dass einer sich einkleiden kann, wie es ihm mit unermesslichen finanziellen Möglichkeiten beliebt, sondern, dass er mit der Armut sich noch die entsprechende Würde zu geben weiß.

Auch bei Herta Müller vegetieren die Gefangenen an der Grenze ihrer Menschlichkeit. Ihr Brotgericht versucht hier die Gerechtigkeit im Kleinen aufrechtzuerhalten. Gleichmäßig verteilter Hunger ist gerecht. Abends dann tauschen die Gefangenen Brot, weil das Brot des anderen immer größer aussieht. Sie ertauschen mit dem ertauschten Brot oftmals neues Brot, denn immer sieht das Brot des Anderen größer aus. Sie tauschen solange, bis sie oftmals wieder mit dem ursprünglichen Bissen Brot dastehen. Als eines Tages dann einer der Mitgefangenen einem anderen sein erspartes Brot, das er unter dem Kopfkissen verwahrt, tagsüber wegisst, so wird er vom Brotgericht ohne Verhandlung blutig geschlagen.

Der Wahnsinn des Hungers

Müller, Herta.IMG 9379

Foto von Ave Maria Mõistlik CC-BY-3.0

Natürlich gilt das Gebot der Würde nicht absolut, denn wer aus fetten Jahren genährt, sollte hier urteilen können? Als am 20. November 1820 der Walfänger Essex von einem Pottwal gerammt wurde und schließlich sank, begannen die Matrosen, die sich auf kleinen Walfangbooten gerettet hatten, nach mehreren Wochen die ersten Toten zu verspeisen. Bald schon losten die halb verhungerten Seeleute aus, wer als nächstes getötet werden würde. Als sie schließlich von einem anderen Walfänger gerettet wurden, heißt es:

„[D]ie Haut mit Geschwüren übersät, nagten die Schiffbrüchigen mit hohlwangigen Gesichtern an den Knochen ihrer toten Kameraden. Selbst als schon die Retter herbeieilten, wollten sie nicht von ihrem grausigen Mahl lassen.“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Essex_%28Walfangschiff%29)

Auch in „Schiffbruch mit Tiger“ stellt sich das Thema im Gewand eines Magischen Realismus dar. Bei Schiffbruch andere Menschen verspeisen? Stan Nadolny greift das Thema in Die Entdeckung der Langsamkeit auf, wo bei der Suche nach der Nordwestpassage eine Mannschaft verunglückt. Die Frage ist in jedem Werk immer wieder, ob wir unter Extrembedingungen des Hungers es doch noch mit der Moral halten können. Herta Müller aber geht in poetische Nähe zum Hunger und entdeckt, wo die Würde des Menschen existentiell gegen Ãœberleben eingetauscht wird:

Und wenn die letzte Freiheit des Menschen schwindet, die letzte Freiheit für etwas zu sein, dann holt der Hungerengel seine Opfer und gibt die Freiheit von ihm:

„Aber die ersten drei Toten im Lager sind:
Die taube Mitzi von zwei Waggons zerquetscht.
Die Kati Meyer im Zementturm verschüttet.
Die Irma Pfeifer im Mörtel erstickt.
[…]
Die Todesursache heißt bei jedem anders, aber mit ihr dabei war immer der Hunger. (89)

Der Hunerengel ist damit eine unbemerkte Grundbedingung des menschlichen Lebens, vom Leben selbst als Restriktion auferlegt. Wie ein fremdes Geschöpf, dass sich in den Eingeweiden ausbreitet und alle Gegenstände in Illusionen der Nahrung verwandelt. Doch da wo der Hungerengel nicht regiert, ist es die Sprache, die die Seele noch nährt und führt:
„Ich sage: Du betrügst mich mit meinem Fleisch. Es ist dir verfallen.

Aber ich bin nicht mein Fleisch.“ (87)

Poetik ist der unauslöschliche Rest des Menschen.

 

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Norman Schultz

Neubrandenburg 2014

 

Weitere Kritiken zu Herta Müllers Atemschaukel

http://www.tagesspiegel.de/kultur/herta-mueller-atemschaukel-roman-aus-dem-versunkenland/1582856.html

http://www.dieterwunderlich.de/Mueller_atemschaukel.htm

http://www.perlentaucher.de/buch/herta-mueller/atemschaukel.html

http://www.zeit.de/2009/35/L-B-Mueller-Contra

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