Alfred Eisleben: Der Mensch als Behinderter und der Behinderte als Mensch – Zum Selbstverständnis einer Spezies

Claustrophobia by Nina Valetova

Durch die Welt zur Normalität (Behinderung und Philosophie)

Wise Old Man (5719871205)

Im Gespräch mit Alfred Eisleben: Picture by Helgi Halldórsson from Reykjavík, Iceland CC-BY-SA-2.0

Der Deutsche, Alfred Eisleben, lebt in seinem freigewählten Exil in Island. Nach dem zweiten Weltkrieg hat es ihn aus Deutschland fortgetrieben. Als Winterprofessor an der Carlson University (Pittsburgh) hat er mir ein weiteres Interview zum Thema Behinderung gegeben.

 

Norman Schultz: Sie sprechen vom Krüppel. Ist dies nicht politisch inkorrekt?

Alfred Eisleben schmunzelt: Ein Schimpfwort? Wie kann es sein, dass die Benachteiligung eines Menschen sich zu einer Beschimpfung umformen konnte? Erleben wir nicht dieselbe Verformung gegenwärtig auf Schulhöfen bei dem Wort „Opfer“. Es ist doch mittlerweile so, dass Menschen, die schwere Ãœberfälle oder Missbräuche erlebt haben, diesen Begriff ungern benutzen. Es sind heutzutage Betroffene. Ähnlich verhält es sich beim Krüppel, er wurde zum Behinderten, bald zum Andersbegabten, mal als Sorgenkind bezeichnet und von einer nicht genannten Organisation zwangsläufig zum Menschen (und zwar in einer Aktion) umgetauft (Der gesamte Ansatz ähnelt stark den Prämissen, die Peter Sloterdijk präsentiert: vgl. Sloterdijk. Du musst dein Leben ändern 2008).

Norman Schultz: Aber warum betrachten wir die Behinderung mit so starker Negativität? Wird dies den Behinderten eigentlich gerecht?

Alfred Eisleben: Es ist keine Diskriminierung, wenn wir von Krüppeln reden! Es ist keine Diskriminierung, weil die Bezeichnung nicht notwendig normgebunden ist, das heißt, sich an gegenwärtigen Standards der Gesellschaft orientiert. Es ist so wie der Schwule „schwul“ ist. Es gibt jedoch noch einen anderen, viel wichtigeren Grund, warum es keine Diskriminierung ist.

Norman Schultz: Ich weiß, worauf sie hinaus wollen: weil wir alle Krüppel sind.

Alfred Eisleben: Richtig, diese Sichtweise der Gleichheit im Hinblick auf unsere Verkrüppelung bildet sich nämlich genau dann heraus, wenn wir den Vergleichspunkt erhöhen. Wieso sollten uns gerade zwei Arme und Beine ermöglichen, um Höheres zu spielen? Wenn wir die Welt in ihrem Sinn durchforschen, so sind alle unsere Gedanken ähnlich bescheiden, egal ob von Menschen mit Armen und Beinen oder vom „Krüppel“.

Norman Schultz: Können Sie dies näher erläutern. Ein Beigeschmack verbleibt irgendwie, wenn sie „Krüppel“ sagen, ähnlich wie beim Wort „Schwarzer“, „Farbiger“, „Afroamerikaner“ oder was uns da für Worte einfallen.

Alfred Eisleben: Diese Worte verlieren nur in einer Hinsicht an Bedeutung. Eine Verbannung erhöht ihren Wert. Ein verbotenes Wort ist immer ein böses Wort. Wenn wir sie jedoch so häufig verwenden, dass sich ihr Bedeutungshorizont verändert, dann kommen wir in einer gleichen Welt an.

Norman Schultz: Nun, das ist eine These, können Sie dies vielleicht an einem Beispiel fest machen?

Alfred Eisleben: Hellen Keller, taublinde Philosophin, muss ich beinah als Kurriousum erwähnen, aber es sollte doch eine Alltäglichkeit sein, dass körperlich Behinderte sich genau in den Bereichen engagieren, die immer offen bleiben. Philosophie ist nicht die Wissenschaft der Gesunden und so müssen wir eine Welt ansteuern, in der es nicht speziell Berufe für Behinderte gibt. Behindertenwerkstätten mögen ihren Sinn erfüllen und Menschen einen geregelten Arbeitstag geben, aber es reintegriert in Beschäftigungsfelder, die nicht unbedingt den Behinderten als Menschen gerecht werden. Wir gestatten den Menschen dort nicht einmal den Mindestlohn. Grund genug sich zu empören.

Norman Schultz: Aber Menschen ohne Behinderung können doch bestimmte Tätigkeiten besser ausführen.

Alfred Eisleben: Natürlich das stimmt! Menschen ohne Behinderung haben gesellschaftlich bessere Chancen.  Es ist hier die Aufgabe eines Staates für Ausgleich zu sorgen. Müssen Behinderte aber gesellschaftlich auf ihre Behinderung reduziert bleiben? Wir sollten eher die Felder erforschen, wo sie es nicht sind. Natürlich ist es bei den Behinderten (Krüppeln) oftmals der Kampf um Normalität, das heißt ein Leben wie die anderen führen zu können. Während wir meinen, um das Höhere zu ringen, wollen sie erst auf das Plateau der Normalität. Dabei sind sie jedoch schon normal. Ihr denken zieht die Grenze ihres Körpers; sie messen sich mit Körperkonturen an der Welt. Doch die Schablonen der Körper können keine Grenze sein für die einzige Befreiung. Nur eine Philosophie nach innen kann von diesem Unsinn der Körper befreien.

Norman Schultz: Sie meinen also, dass hier eine prinzipiell andere Philosophie wirken soll?

Alfred Eisleben: Ja, ich halte die Einstellung eines Kampfes um Normalität für falsch, wenn auch gesellschaftlich für notwendig. Es muss jedoch allein zum Resultat haben, dass wir nicht alle gleich sind, sondern durch unsere Beschränkungen normal werden. Zwar muss der Staat Behinderten ihr Leben erleichtern, aber es darf nicht ihr Kampf sein. Der Kampf um die Normalität verhindert die Zeit für die Kämpfe um die Kunst und die Philosophie des Lebens, die den anders Behinderten bereits frei stehen. Auch Krüppel sind mit uns auf Augenhöhe bei denselben Fragen um das Leben. Nur dort haben Behinderte und „Unbehinderte“ die gleiche Fallhöhe. Es bleibt die Frage, was ist eigentlich eine Behinderung? Ist der Wirtschaftsingenieur, der sein Leben an der Börse mit ethisch bedenklichen Derivaten verdient nicht viel stärker behindert und zwar in seinem Denken als der, der mit seinem Körper hadert? Stattdessen bewundern wir Menschen, die sich in unsere nutzlose Normalität der Ungerechtigkeit zurückkämpfen, auch wenn dies keineswegs ein Vorwurf an den Behinderten ist, sondern ein Vorwurf an die Bewunderer:

Norman Schultz: Ich verstehe nicht genau, warum sie die Geschichte, derer, die sich zurückkämpfen kritisieren.

Alfred Eisleben: Wir feiern die Erfolgsgeschichte eines Menschen, der sich die Normalität erkämpft. Ungeachtet der ungeheuren Lebensleistung ist damit aber für eine Philosophie nicht viel gewonnen. Sollen wir jetzt etwa schätzen, dass wir schließlich Arme und Beine hätten und uns daher nicht beschweren über das, was das Leben aus uns macht? Ist die Bewunderung dann nicht eine geheuchelte, wenn wir es mit dem Blick auf unsere angebliche Mehrwertigkeit tun? Eine Bewunderung aus Überlegenheit? So als stünden wir auf einem Berggipfel und laben uns daran wie andere zu uns hinaufkrackseln? Wenn wir Nick Vujciic dafür schätzen, dass er sich einen Platz neben uns erkämpft hat, dann schätzen wir ihn nicht wirklich. Aber Nick Vujicic kann mehr als andere. Er erschließt sich neben dem Alltag die Felder, die für ein Menschenleben angemessen sind: Die Frage nach dem Geist, der Kunst, die Frage nach dem Ganzen, nach der Philosophie. Damit ist er bei weitem sogar mehr als wir mit Armen und Beinen sind und das ist Punkt, worauf es ankommt. Die zukünftigen Behinderungen bestehen nicht im Körper, sondern in Einstellungen.

Norman Schultz: Der Behinderte ist also prinzipiell näher am wahren Seinsgesetz?

Alfred Eisleben: So absurd es klingt, der Behinderte ist weiter als der anders Behinderte, denn erweitern wir nur den Standpunkt unserer Erfahrung um die Möglichkeit einer höheren, besser ausgestatteten Existenz, so erfahren wir uns selbst als Kränkung: Ein Menschengeschlecht, das nur aus Haut und Knochen besteht! Die Grenze des Körpers besteht für Behinderte und anders Behinderte. Die Grenze ist also keineswegs im Körper zu suchen und daher sind die Benachteiligungen auch nicht als solche zu betrachten. Die Kranken und Schwachen, die Behinderten sind somit in bestimmten Fällen die starken unserer Gesellschaft und wenn wir bedenken, dass der Starke überlebt, dann könnten wir eigentlich nur mit ihnen überleben. Benachteiligungen geben die eigentliche Aufgabe frei, sich von der Hülle seiner alltäglichen Bedrängnisse zu befreien und sich dem eigentlichen Reichtum zu öffnen, nämlich der inneren Freiheit der Entwicklung. In diesem Sinne ist die Technik auch eine ständige Überwindung menschlicher Grenzen. Aus den materialen Behinderungen entstehen nun jedoch auch die ersten Überwindungen des Geistes, bald sind wir alle im Angesicht einer computergestützten Welt behindert. Es gilt, sich darauf mit einer besseren Ethik vorzubereiten. Genaugenommen sehe ich hier also in Nick Vujcic kein Motivationsschicksal. Es geht nicht darum aus einer Minderwertigkeit das Beste zu machen, sondern darum überhaupt das Richtige im Sinn einer Ethik in Angriff zu nehmen. Hierin und nicht im Erfolg sind wir gleich und bewundernswert.

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Norman Schultz

Pittsburgh, April 2015

 

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