Im letzten Artikel zu den Grenzen des Ichs, hatte ich ja bereits die Philosophie auf multiple Persönlichkeiten bezogen. Mir kam nun nur zu Ohren, dass das Thema umstritten sei und mein Artikel im Umfeld von netzwerkB auch diskutiert worden sei. Da ich mich relativ unkritisch und unvoreingenommen mit dem Thema „Multiple Persönlichkeit“ auseinandergesetzt habe, habe ich nun die Nächte durchgearbeitet und versucht auf mögliche Einwände zu reagieren. Eigentlich sollten diese Beiträge, die Interviews mit Sophie Stein, einer multiplen Persönlichkeit, nur begleiten. Nun ist es allerdings zu einem sehr langen Artikel gekommen. Die Textfülle zeugt von der Schwierigkeit des Problems. Da der Texte hier nun recht schwer ist, verstehe ich, dass nicht jeder die Zeit hat, sich da durchzuwühlen und das ist auch sicher nicht Sinn der Sache, daher stelle ich die Videos (nochmals Teil 1 und Teil 2) der Interviews gleich an den Anfang. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit Norman Schultz.
Das Problem der Faszination für multiple Persönlichkeiten
Multiple Persönlichkeiten faszinieren, denn sie versammeln viele Eigenschaften, beherrschen beispielsweise unterschiedliche Handschriften und besitzen oftmals viele verschiedene, überraschende Talente. Hinzu kommt, dass multiple Persönlichkeiten oftmals eine erschütternde Geschichte aufweisen. Aufgrund dieser Umstände ist das Phänomen der multiplen Persönlichkeit prädestiniert als Modeerscheinung gehandelt werden zu können. Das Buch „Vater unser, der du bist in der Hölle“ gibt hiervon ein Zeugnis (http://www.xn--vaterunserinderhlle-56b.de/die-ebay-geschichte/index.html). Ich selbst halte das Buch für problematisch. So wird meiner Erinnerung nach in dem Buch ein Zirkel von Innenpersonen beschrieben, die von einer satanistischen Sekte insoweit manipuliert und teilweise erzeugt worden sind, so dass diese gegen die Hauptperson unerkannt handeln (Ich habe das Buch leider gerade nicht zur Hand, um das genau zu überprüfen). Nach Rücksprache mit Sophie Stein hält sie solcherlei Persönlichkeitsinduzierungen durch die Täter auch für fragwürdig, obwohl solcherlei Fälle nicht auszuschließen sind. Ich möchte keineswegs der Frau, auf der diese Geschichte basiert, zu nah treten und ich kann mir vieles vorstellen. Und dennoch kommen hier Zweifel auf und es stellt sich die Frage: Sollen wir ohne Weiteres glauben? Diese Frage stellt sich auch an das Phänomen „Multiple Persönlichkeit“, das sich häufig mit unvorstellbaren Geschichten sexualisierter Gewalt überkreuzt.
Zur Schwierigkeit für den Journalismus
Journalistische Darstellungen müssen sich hier zerreißen; zerreißen zwischen Vertrauenswerbung beim Betroffenen und dem unglaublichen Terrain „sexualisierte Gewalt“ mit all den Abgründen und Randbereichen des Vorstellbaren. Sie recherchieren auch am Rand der Gefahr gegenüber möglichen Tätergruppen, die gut organisiert sind. Damit verbinden sich Schwierigkeiten die Vergangenheit überhaupt überprüfen zu können und kritisch zu gewichten. Ich stelle es mir schwierig vor, insofern der Betroffene eine labile Person ist, diesen kritisch zu hinterfragen. Zeugenbefragung ist so gut wie ausgeschlossen, da die Tat oftmals Jahrzehnte zurückliegt und eine Zeugenbefragung eigentlich immer eine Mittäterbefragung darstellt, insofern diese nicht eingegriffen haben. Letztlich sind die Journalisten stark angewiesen auf die Aussage des Betroffenen.
Heißt das nun, dass wir Betroffenen, die sich zu Wort melden nicht glauben können? Was können wir glauben? Wir können durchaus davon ausgehen, dass ganze Tätergruppen Kinder missbrauchen. Wie diese organisiert sind, verschwindet im Dunkel der Kriminalität. Es sind ja keine Vereine, die wir ohne weiteres zahlenmäßig erfassen könnten. Geschätzte Umsätze im Bereich Kinderpornografie lassen uns aber auf eine breite Subkultur schließen. Nehmen wir die Zahlen des Ärzteblattes ernst, so wurden 1,9% der unter 14 jährigen schwerer sexualisierter Gewalt ausgesetzt (http://www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=87643). Berücksichtigen wir nun weiter, dass bei standardisierten Fragebögen eine gewisse Fehlerquote anzusetzen ist (Denn wer antwortet bei schwerer sexualisierter Gewalt in einem Fragebogen unter der Angst, den Tätern könnte dieser Fragebogen doch irgendwie in die Hände fallen? Oder wer glaubt sogleich der Fragebogen wäre wirklich anonym?); berücksichtigen wir diesen Umstand also, so können wir von einer überraschenden Anzahl von Tätern ausgehen (Ich wurde darauf hingewiesen, dass diese Zahlen noch weitesgehend verharmlosend sind und eher von einer Zahl von 12-13% auszugehen ist. Vor allem die Unterscheidung zwischen schwerer und leichterer sexualisierter Gewalt ist wohl schlecht durchgeführt). Sexualisierte Gewalt ist also Fakt, ein weitreichendes gesellschaftliches Problem, und daher ist auch jeder Betroffene ernst zu nehmen und zwar ernster als dies gegenwärtig in unserer Gesellschaft geschieht, denn im Hinblick darauf, dass diese Delikte so häufig sind, werden diese sehr selten aufgedeckt und thematisiert. Verschärfend muss hinzugefügt werden, dass bei Fällen sexualisierter Gewalt kein Zusammenhang zwischen Schichtzugehörigkeit der Personen festzustellen ist (im Gegensatz zu schwerer Gewalt oder Vernachlässigung). Schwere sexualisierte Gewalt kann also überall geschehen. Es ist daher durchaus vorstellbar, dass Kinder von schwerer sexualisierter Gewalt berichten. Der Grund, warum wir so selten davon erfahren hängt eher damit zusammen, dass unsere Gesellschaft dieses eher tabuisiert als ernst nimmt und Betroffene als „Opfer“ brandmarkt.
Welche Erzählungen in den Randbereichen der schweren sexualisierten Gewalt können wir allerdings ernst nehmen? Obwohl die Anzahl der Taten so groß ist, sehen wir diese Taten im Alltag kaum. Die Sichtbarkeit der Taten ist nicht gegeben und so ist der genaue wissenschaftliche Umgang damit schwierig. Ich unterstelle, dass sich daher schnell Gerüchte um mögliche kriminelle Vereinigungen etablieren lassen, ohne dass wir konkrete Möglichkeiten hätten, diese Gerüchte zu überprüfen. Wie gehen wir daher mit Aussagen zu beispielsweise Satanskulten um, ohne uns zu versteigen? Die Sache erweist sich als schwierig. Hier müssen wir mit Einzelberichten vorsichtig sein und hoffen, dass die Kriminalpolizei, die bessere Möglichkeiten der Recherche hat, einen guten Dienst verrichtet. Das heißt aber nicht, dass es abwegig ist, dass eine Person von Massenvergewaltigungen berichtet. Die Deutungen satanischer Kulte müssen wir allerdings zunächst als Deutungen hinnehmen und so sehe ich es auch für das Buch „Vater unser, der du bist in der Hölle“. Die Handlungen können durchaus kultischen Charakter gehabt haben, die Frage ist, wie weit die Schlussfolgerungen hier zu einer großen kultischen Organisation reichen (wie es die Fußnoten am Ende des Buchs suggerieren). Unabhängig von meiner persönlichen Meinung sehen wir hier zumindest, dass sich das Feld sehr schnell für Spekulationen aller Art öffnet, denn wo sich erst der Abgrund des Unvorstellbaren für Nicht-Betroffene auftut, dort versammeln sich auch schnell Andeutungen und Hinweise, die zu schnell überinterpretiert werden. Vielleicht drängt der Journalist auch den Betroffenen zu bestimmten Aussagen. Wir haben es zumindest schwer solch anonymisierte Bücher ganz genau beim Wort zu nehmen.
Was bedeutet diese Schwierigkeit der Überprüfbarkeit für multiple Persönlichkeiten
Da multiple Persönlichkeiten nun zumeist von Taten betroffen sind, die sich ein Mensch, der nicht betroffen ist, nur schwer vorstellen kann, kommen auch hier Zweifel auf. Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass im psychatrischen Umfeld psychisch Kranke sich belesen und dabei Geschichten erfinden oder sich selbst als multiple Persönlichkeit stilisieren. Es ist nicht auszuschließen, dass eine schwer traumatisierte Person, Geschichten ihrer Vergangenheit reinterpretiert, auch wenn der Kern der Geschichte, die sexualisierte Gewalt, Bestand hat. Es ist auch durchaus vorstellbar, dass psychatrische Gutachter sich täuschen lassen und eine solche „Störung“ unterstellen, obwohl nur ein schauspielernder Verbrecher hiermit auf Unzurechnungsfähigkeit spekuliert. Das macht das seltene Phänomen der multiplen Persönlichkeit einhergehend mit diesen seltenen Fällen der Täuschung für theoretische Betrachtungen äußerst schwer zu handhaben.
Probleme einer empirischen Wissenschaft
Hinzu kommt das Problem der geringen Fallzahlen. Geringe Fallzahlen sind für quantitativ-empirisch arbeitende Wissenschaftler immer ein Problem. Aus einer einmaligen Beobachtung lässt sich leider nicht so viel schlussfolgern. Ganz simpel und theoretisch gesprochen: Wenn ich einmal in meinem Leben einen Sonnenaufgang beobachte, dann weiß ich noch nicht viel über Sonnenaufgänge, vor allem nicht, wie und wann und was sich da eigentlich vollzieht. Ich gewinne dabei eher Fragen als eindeutige Befunde. Zuverlässige therapeutische Ansätze lassen sich daher erst nach vielen Jahren und nach Auswertung von Studien bestimmen – für Diagnosen gilt gleiches.
Natürlich ist es mittlerweile auch so, dass die Ansätze nicht im Blindlfug erprobt werden, sondern auf Kohärenz mit der bisherigen Theorie überprüft werden. Ãœber den wirklichen Erfolg kann aber letztlich nur die Statistik Auskunft geben. Da also nur sehr wenige Fälle von multipler Persönlichkeit bekannt sind, ist es hier schwierig in quantitative Bereiche vorzustoßen. In der Folge heißt das, dass viele Theorien auf den Markt geworfen werden können, die eher einer Geisteswissenschaft entsprechen und sich daher im Bereich der Kohärenz (vereinfacht: einheitlicher Zusammenhang) bewegen, das heißt es wird geschaut, wie stimmt der Interpretationsansatz mit anderen vertrauenswürdigen Ansätzen überein. Angesichts der Unerforschtheit des menschlichen Daseins – sowohl im Hinblick auf seine Sinndimension als auch seine Funktionsweise – bietet sich hier der optimale Nährboden für Schulenstreits, das heißt Schulen, die nach unterschiedlichen Modellen konkurrierende Daseinsinterpretationen auf Kohärenz prüfen.
Das Problem der Fehldiagnosen
Aber zu den niedrigen Fallzahlen gesellt sich noch ein weiteres Problem: Je weniger Fälle, desto schwerwiegender wirken sich Fehldiagnosen auf die Anerkennung des Phänomens aus. Wenn nämlich wenige anerkannte Fälle von Schizophrenie existieren (nehmen wir an es seien weltweit nur 10), dann werden sich zwei oder drei Fehldiagnosen schon erheblich auf das Vertrauen in die Diagnose des Phänomens auswirken. Hier werden dann Fehldiagnosen weniger den vorschnellen Therapeuten angelastet, sondern übertragen auf die Plausibilität des Phänomens überhaupt. Die Schlussfolgerung lautet dann schnell: Vielleicht gibt es multiple Persönlichkeiten nicht, denn viele zuverlässige Fälle gebe es bisher nicht. Was folgt sind Einzelfalldiskussionen und so lassen sich im Internet vor allem Argumentationen entdecken, die auf der Darstellung von Einzelfällen basieren. Ein nicht geprüfter Fall aus dem Internet stellt sich zum Beispiel so dar:
„Fünf Jahre lang lebte ich eine iatrogen induzierte falsche Identität als Multiple Persönlichkeit. Inzwischen habe ich Klage gegen zwei der Therapeuten eingereicht, die nicht in der Lage waren, die Depersonalisationsstörung, die bei mir in Wahrheit vorlag, von der Multiplen Persönlichkeitsstörung zu trennen. Wie auch, es wird ja nicht und nichts differenziert. Egal was man hat, ob man nun Stimmen hört oder nicht, ob man Persönlichkeiten wahrnimmt oder nicht, … alles ist ein Beweis dafür, dass man multipel sein muss.“ http://psychoinduktion.blogspot.com/2010/09/psycho-kritik.html
Solcherlei, aber auch andere Fälle stellen die Arbeit der Therapeuten in Frage, aber auch die Form der Diagnose. Das Hauptproblem ist jedoch, dass bei geringen Fallzahlen empirische Arbeit unglaublich erschwert ist.
Die Diagnose der multiplen Persönlichkeit als Mode
Da nun Wissen im Bereich der multiplen Persönlichkeiten sich offensichtlich noch an Fallstudien orientiert, wird verständlich, warum multiple Persönlichkeiten auch als Modeerscheinung bezeichnet werden (vgl. http://psychoinduktion.blogspot.com/2010/09/psycho-mode.html). Es ist eine Mode nach dieser Erkrankung zu suchen (so hat selbst Hollywood einen beliebten Auflösungskniff gemacht). In gewisser Hinsicht halte ich die Idee der Mode jedoch nicht unbedingt für falsch, da ich eine Geschichte der Therapieentdeckung  von schwerer und grausamer sexualisierter Gewalt dahinter vermute. Ich glaube die multiple Persönlichkeit ist nicht unbedingt eine klar feststellbare Struktur, sondern ein komplizierter, kognitiver Mechanismus, der die Identitätsleistung eines Selbst sichern soll. Insofern ist eine multiple Persönlichkeit auch abhängig von den Instrumenten, die sie von Therapeuten zur Selbstwahrnehmung geliefert bekommt. Im Hinblick darauf würde ich dieses allerdings nicht als Mode bezeichnen, sondern die Entdeckung und Hervorholung von multiplen Persönlichkeiten als vielleicht geeignetes therapeutisches Werkzeug zur Traumabewältigung. Dieses Werkzeug musste als Artefakt in der Geschichte tatsächlich erst gemacht werden und daher ist es vielleicht auch als gegenwärtige Mode zu betrachten. Dennoch aber ist es kein modisches Accessoire, mit dem sich Hollywoodbösewichte oder eitle Therapeuten schmücken, sondern ein geschichtlich entstandenes Werkzeug.
Auf der anderen Seite bin ich der Überzeugung, dass sich auch ein fester Kern von Eigenschaften umschließen lässt, welche dennoch immer für multiple Persönlichkeiten gelten. Diese Thesen werde ich im Folgenden weiter erläutern. Wir werden diese Thesen als Thesen gegen Einwände des Phänomens „multiple Persönlichkeit“ sukzessive hervorbringen.
Warum sollte ich dafür qualifiziert sein?
Was mache ich also. Ich bin kein Psychoanalytiker, kein Psychater, kein Psychologe, habe keinerlei Ausbildung in diesem Bereich und so gut wie keine praktische Erfahrung. Meine Interviews hierzu setzen sich mit einer Frau auseinander, die von sich behauptet multiple Persönlichkeit zu sein. Nun kann es sein, dass ich von ihr systematisch getäuscht werde. Es kann sein, dass sie keine multiple Persönlichkeit ist. Kritiker mögen einwenden, dass ich nicht korrekt diagnostiziere und mich von einer Modetheorie beeinflussen lasse. Ich muss aber hinzufügen, dass das für mich nur eine geringe Relevanz besitzt. Da ich keine therapeutischen Ziele verfolge, muss ich auch keine präzise Diagnose stellen und kann mich ganz auf das mir begegnende Phänomen fokussieren. Ich bin daher frei von Schulperspektiven, die sich hier vielleicht schon etabliert haben. In dem Rahmen wie ich Sophie Stein kennengelernt habe, stellt sie für mich eine multiple Persönlichkeit dar, ohne dass ich korrekte Diagnosen oder Differenzmarker kenne. Ich glaube ohne viel psychologisches Grundwissen, dass sich ihre Hauptperson tatsächlich aus einzelnen sehr starken Persönlichkeitsprofilen zusammensetzt. Ich glaube nicht, dass sie mich und ihren gesamten Freundeskreis systematisch täuscht. Philosophische Gründe, warum ich dies glaube, möchte ich im weiteren Verlauf auch zeigen. Hierbei berufe ich mich vor allem auf die Fragen, wie ein Mensch Identität haben kann, wenn eine traumatische Vergangenheit den Großteil seiner Geschichte ausmacht.
Da ich nun aber Philosoph und kein Psychologe bin, ist vielleicht das einzige Qualitätsplus, das ich in dieser Arbeit anbieten kann, meine Unbefangenheit gegenüber der Debatte zwischen möglichen Schulen (die mir nicht bekannt sind). Und so möchte ich einige mir bekannte Einwände aus der Sicht eines Laien thematisieren.
Schwierigkeit der Einordnung
Einer der wohl größten Kritikpunkte ist, dass multiple Persönlichkeiten durch die Arbeit des Therapeuten ausgelöst werden. Was soll das nun bedeuten? Zunächst kann dies verschiedene Bedeutungen haben.
Dies heißt entweder, dass der Therapeut der Klientin das Phänomen vollständig einredet beziehungsweise dass der Therapeut an das Phänomen glaubt und die Klientin will, dass der Therapeut dieses glaubt.
Oder aber es heißt: Der Therapeut fördert eine gewisse Handlungsweise bei der Klientin (ich sollte wohl Therapiepartnerin sagen). Er fördert einen Vorgang, wobei sich einzelne Persönlichkeiten identifizieren und sich als Aktzentren gewisser Vergangenheiten offenbaren. Diese Förderung ist nicht mit dem Einreden zu verwechseln, da der Therapeut hier nur sehr passiv maieutisch wirksam ist.
Erstere Variante kann tatsächlich in einigen Fällen in Betracht gezogen werden, so am Beispiel des Massenvergewaltigers Billy Milligan (http://www.xn--uwe-fllgrabe-hlb.de/mediapool/42/428554/data/Unglaublich_aber_wahr/Multipl._Persoenl._als_Prod.pdf). Billy Milligan steht im Verdacht das Phänomen der multiplen Persönlichkeit missbraucht zu haben, um eine geringere Strafe zu erzielen. Der Verdacht des Schauspieltalents kommt hier auf als auch der Vorwurf, dass der Therapeut Keyes anscheinend relativ unkritisch Milligan glaubte. Ähnlich schwierig zeigt sich dieses Verhältnis im Fall von Sybill. Der Autor Füllgrabe schreibt hierzu:
„Die Kulissen waren aufgebaut, die Bühne war vorbereitet für das Auftauchen der verschiedenen Persönlichkeiten. Diese Formulierung ist deshalb wichtig, weil man der Behauptung, Multiple Persönlichkeiten seien tatsächlich ,,in“ einem Menschen, eine Gegenhypothese entgegensetzen muß: Daß während einer (psychoanalytischen) Therapie mehrere Persönlichkeiten auftauchen, kann auch auf die Suggestivwirkung eines (vornehmlich psychoanalytisch orientierten) Therapeuten zurückzuführen sein, vor allem wenn der Patient häufig in Hypnose versetzt wird. Es ist auch erstaunlich, daß weder Thigpen und Cleckley (1951), noch die Psychoanalytikerin Schreiber (1973), noch Keyes (1981) überhaupt in Erwägung gezogen haben, daß das Phänomen der MP ein hypnotisches Artefakt sein könnte.“ (Quelle: ebenda)
Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass die multiple Persönlichkeit erst durch den Therapeuten gemacht ist (ein Artefakt), allerdings heißt nicht, dass damit das Phänomen „Multiple Persönlichkeit“ widerlegt wäre, sondern es bezieht sich nur auf den Ursprung des Phänomens der multiplen Persönlichkeit durch den Therapeuten. Es ist durch menschliche Kunst (arte) gemacht (fakt). Der Ursprung liegt damit nicht direkt in der Vergangenheit der Klienten. Was heißt das aber? Das heißt, auch wenn der Ursprung für multiple Persönlichkeit der Therapeut ist, handelt es sich doch immer noch um eine multiple Persönlichkeit.
Füllgrabe beschreibt solcherlei Entstehungsrituale weiter:
„Ruthie wurde gerufen: Schweigen. Die Arztin wartete. Dann sagte Sybils Stimme ruhig: ,,Ich sehe sie.“ Der Augenblick hatte große Bedeutung, weil es das allererste Mal war, daß Sybil eine visuelle Vorstellung von irgendeinem ihrer anderen Selbst hatte, das erste Mal, daß sie für sie in ihrem eigenen Bewußtsein existierten.“ (Schreiber, 1973, S. 300 zitiert nach Füllgrabe Quelle: Ebenda).
Füllgrabe habe hier nun die Frage offen gelassen, woher dann die ,,Schauspieler" für das Stück gekommen seien. Mit dem Recht eines Wissenschaftlers fragt er, ob es sich bei Sybil tatsächlich um eine multiple Persönlichkeit handelt oder ob sie Rollen anderer Menschen übernommen hat. Er verweist auch darauf, dass Sybil psychatrische Literatur gelesen habe.
Er spricht sich noch nicht gegen die multiple Persönlichkeit aus, fordert aber die genaue Überprüfung nach Alternativhypothesen. Und dennoch übersieht Füllgrabe die Frage, ob die Schauspieler für das Stück nicht fortan genau das richtige Stück spielen, nämlich multiple Persönlichkeit. Es fragt sich nämlich an dieser Stelle, ob die auftauchenden Persönlichkeiten in diesen Momenten, der Befreiungsschuss für eine Biografie des Grauens sind (mehr zu dieser These weiter unten). Diese Alternativhypothese zu seiner Alternativhypothese stellt Füllgrabe nicht auf. Auch wenn hier also die Fähigkeit des dissoziierenden Schauspiels zum Tragen käme, so fragt sich doch, ob das Schauspiel nicht direkt zur Lebenswirklichkeit der Betroffenen transformiert wird, das Schauspiel lebensnotwendig und erleichternd ist.
Füllgrabe wertet multiple Persönlichkeit als kognitives Phänomen und als Modererscheinung
Schließlich schlussfolgert Füllgrabe:
„Vielmehr handelt es sich bei MP um ein kognitives Phänomen, wobei Selbsttäuschung und Täuschung eine Rolle spielen können. Meine These zum Phänomen ,,Multiple Persönlichkeit“ ist also: Die Äußerungsformen von MP durch den gleichen Menschen ist ein hypnotischer Artefakt, das dem Zeitgeist unterworfen ist und durch die Suggestionen eines an die Existenz von MP glaubenden Therapeuten bei einer unglücklichen, selbstunsicheren Person im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung ausgelöst wird.“ (Quelle: Ebenda)
Füllgrabe geht also davon aus, dass multiple Persönlichkeiten durch Therapeuten und Klientin erzeugt werden. Heißt das aber nun, dass das Phänomen „Multiple Persönlichkeit“ seine Berechtigung verliert? Das Argument hört sich von der Struktur genauso an wie: Was von Menschen technisch erzeugt wird, kann kein Leben sein. Es bietet sich nun keinerlei Begründung in Füllgrabes Argument an, warum selbst eine erzeugte multiple Persönlichkeit keine sein sollte.
Ich möchte das Problem anders als Füllgrabe darstellen. Da die Diagnose multiple Persönlichkeit und die Entwicklung der multiplen Persönlichkeit erst im Laufe der Behandlung auftreten, besteht die „multiple Persönlichkeit“ mit Sicherheit aus Zeitgeistmomenten. Was heißt das nun? Erst wenn eine multiple Persönlichkeit beispielsweise nicht auf die Diagnose Schizophrenie mit Tabletten vollgestopft wird, sondern der Therapeut den Klientin auf seine dissoziierende Momente hinweist und schließlich durch eine Hauptperson Kontakt zu anderen Personen herstellt und damit die anderen Personen etabliert, so ist dieses Verfahren abhängig von der Geschichte der Therapie (ein Zeitgeistmoment). Was hier aber nicht konstruiert ist, ist der Ankerpunkt nämlich die Person, die dazu fähig ist solche Persönlichkeiten zu bilden. Ich behaupte nun nicht, dass die Person vorher nicht diese Persönlichkeiten hatte, ich zeige nur, dass dennoch eine Interpretation von Füllgrabes Ansatz möglich ist, der multiple Persönlichkeiten als induzierte Zeitgeistmomente zulässt zugleich aber auch das Phänomen „Multiple Persönlichkeit“ akzeptiert.
Dieses Verfahren der „Multiplen Persönlichkeit“ ist aber im Mindesten ein Lernprozess, der durchaus kulturspezifisch sein kann. Es könnte sein, dass eine schamanische Kultur mit solchen Problemen anders umgeht als unsere Kultur und dabei Geister oder ähnliches beschwören und damit vielleicht die Akzeptanz oder Ausbildung von weiteren Persönlichkeiten unterdrücken, mithin andere Phänomenbilder von Menschen mit der Veranlagung zur multiplen Persönlichkeit erhalten. An dieser Stelle würde sich fragen, welche Kulturtechnik für Menschen mit schwerer Vergangenheit und dieser Fähigkeit angemessen wäre (zu dieser Frage mehr weiter unten).
Multiple Persönlichkeit als Fähigkeit, die angewendet werden kann
Somit kann aber auch die Frage gestellt werden, wie die Form der multiplen Persönlichkeit eine Fähigkeit ist, die angewendet wird. Da ich es nicht unbedingt als Krankheit betrachte, ist es durchaus legitim diese Fähigkeit in gewissen Rahmen zu forcieren. So hat Sophie Stein lange Zeit nicht gewusst, dass sie eine multiple Persönlichkeit ist und wurde Jahre lang auf Schizophrenie mit geringem Erfolg behandelt. Erst durch Einsatz einer Freundin lernte sie, Kontakt mit den anderen Personen aufzunehmen und kam mit ihrer Vergangenheit ins Gespräch. Einer grausamen Vergangenheit und bei Weitem das Schlimmste, was ich je gehört habe. Nun war bei ihr die Symptomlage vor dem „Ausreifen“ ihrer multiplen Persönlichkeit tatsächlich anders als vorher, was bedeutet, dass sie an einem ihrer Wege womöglich auch andere Wege hätte einschlagen können, die aber keinesfalls besser gewesen sein müssten. Es wäre durchaus denkbar, dass sie ohne die Unterstützung durch Freunde, heute immer noch als schizophrene Person sich selbst als verrückt ablehnen würde und damit die multiple Persönlichkeit in sich nicht zulassen könnte oder hätte. Es ist genauso denkbar, dass die Diagnose „multiple Persönlichkeit“ ihr einen anderen Weg verstellt. Dieses halte ich aber, da ich sie gut kenne, für unwahrscheinlich. Nun kann ich mit hoher Sicherheit sagen, dass Sophie Stein keinesfalls verrückt ist. Mit schweren Wahnvorstellungen einer Shizophrenie lässt sich ihr Zustand keineswegs beschreiben. Die folgenden und bisherigen Interviews zeigen dieses deutlich. Sie ist eine äußerst stabile Persönlichkeit, die mit einer Geschichte umzugehen weiß, wo andere schier verzweifelt wären. Die starke Dissoziation in verschiedene Persönlichkeiten erscheint mir daher als Technik (welche freilich nicht jeder beherrschen kann), die sinnvoll gedacht werden kann. Selbst wenn also die multiple Persönlichkeit bei ihr durch Freunde oder Therapeuten ausgelöst sein sollte, so würde ich es in ihrem Fall als außerordentlich sinnvoll erachten, denn als EINE Persönlichkeit, die all diese biografischen Hiebe und Stiche in sich aushalten sollte, könnte ich sie mir gar nicht vorstellen. Ich wüsste nicht, wie so etwas irgendein Mensch verarbeiten sollte, wenn er nicht konsequente Muster und Techniken der Verarbeitung hätte. Es ist hier also meines Erachtens sogar fragwürdig, ob das Phänomen „multiple Persönlichkeit“ sogar so therapiert werden müsste (wenn es denn akzeptiert ist), dass die Persönlichkeiten sich vereinen und schließlich das Ziel sein sollte, EINE einheitliche Persönlichkeit zu erreichen. Vielmehr erachte ich ihren fortwährenden Dialog mit verschiedenen Personen in sich als Möglichkeit, um mit sich selbst klarer zu werden, vielleicht – um einen Ansatz der existentialistischen Psychologie mit in die Waagschale zu werfen – um sich selbst als Eigentlichkeit zu fassen.
Therapien müssten sich meines Erachten eher auf die Traumbehandlung fokussieren, statt das Phänomen „multiple Persönlichkeit“ in den Mittelpunkt zu stellen. Natürlich kann hier gesondert behandelt werden, insofern, dass der Therapeut die klare Ausbildung der Persönlichkeiten nach Jahren einer schlechten Schizophreniediagnose erschließt. Am Fallbeispiel Sophie Stein jedenfalls könnte ich mir nicht erklären, was spezifisch an der Diagnose „multipler Persönlichkeit“ als Krankheit zu bezeichnen wäre. Viel mehr belasten sie die Geschichten, die sich dahinter verbergen. Mit schweren Fällen von Schizophrenie jedenfalls kann das Phänomen, das sie auszeichnet, unter keinen Umständen verglichen werden. Vielmehr zeichnet ihre Krankheit das aus, was viele Betroffene auszeichnet. Sie hat eine schwere Biografie hinter sich und mit wenig anderem als diesen Problemen zu kämpfen. Ein Weg, der sich für sie dabei aufgetan hat, war die Dissoziation und dabei ist es egal, ob es die Schauspielleistung ihres Lebens ist, vom Psychotherapeuten induziert oder aber von Anfang an da war.
Sich im Nachhinein mit sich identifizieren?
Mit dem Gesagten könnte es daher durchaus sein, dass Sophie Stein die diffusen Abspaltungen von früher im Nachhinein präzise mit Personen identifiziert, um das Erlebte erarbeiten und aufarbeiten zu können. Das ist natürlich nur eine These, wenngleich eine für mich sehr plausible. Das heißt nun nicht, dass es keine multiplen Persönlichkeiten gibt, sondern, dass es für sie ein Weg ist, die Situation, in der sie sich befindet, zu verarbeiten.
Was heißt das aber: Sich mit sich von damals zu identifizieren? Ich möchte das mal an mir erklären. Ich denke auch manchmal nach, was mich eigentlich noch mit dem Dreijährigen von damals verbindet und tatsächlich erscheint mir dies beim theoretischen Reflektieren nicht viel zu sein als eigentlich nur der Gedanke der Identität, den ich zu jedem gedachten Objekt hinzudenken muss, um es denken zu können. Das heißt, wenn ich mich damals einholen will, dann denke/fühle ich mich, aber das Körnchen Realität verschwindet uneinholbar hinter meiner Reflexion (was Hegel schon versuchte unermüdlich darzustellen). Einzig verbleibt der Gedanke des unverrückbaren blinden Flecks, der sich nur in transzendentaler Perspektive eröffnen kann und der ich bin, den ich irgendwie spüre (nur wie?).
(Ich weiß, dass ich mich mit dem Folgenden indirekt auf psychologisches Terrain zu begeben scheine, aber ich betreibe keine empirische Psychologie, sondern nur Reflexion auf die notwendigen Voraussetzungen, damit überhaupt so etwas wie Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis möglich ist. Sollte das für den ein oder anderen an dieser Stelle zu schwer sein, so bitte ich über den nächsten und übernächsten Absatz hinwegzusehen. Ich will an dieser Stelle einfach etwas genauer sein).
Meine Vergangenheit ist keine Videoaufzeichnung, sondern eine kognitive Reproduktion sowie der Bezug dieser Reproduktion auf Sinnesdaten. Diese beiden müssen, sofern sie Erkenntnis sein sollen (Realität haben sollen), nach Regeln von Begriffen aufeinander bezogen sein. Dass dann dort auch etwas außer mir ist, was meine Begriffe bezeichnen, setze ich dabei als notwendig voraus, denn andernfalls wäre meine gesamte Erkenntnis nicht möglich (kurzer kantischer Deduktionsabriss von den notwendigen Voraussetzungen des Denkens überhaupt ohne psychologische Theorien oder empirische Befunde bemühen zu müssen). Das heißt: Meine Identität ist kein gespeicherter Zusammenhang, der auf der Festplatte „Gehirn“ hinterlegt ist, sondern eine Erzeugungsleistung, wo letztlich nur ein kleines Körnchen „Mich-immer-schon-voraussetzen-müssen“ bleibt. Identität bilde ich dabei in Bezug auf einen Erfahrungsteil in mir, doch der Erfahrungsteil kann nur sein, insofern ein transzendentales Ich diesen auch bildet (ein Aktzentrum, eine Fähigkeit oder wie immer ein Psychologe dies nun versuchen möchte zu bezeichnen, so bleibt festzuhalten, dass das Transzendentale als Weltliches hier nicht mehr einzuholen ist. Es bleibt transzendent, nur in transzendentaler Perspektive aufzeigbar). An dieser Stelle entsteht übrigens der Riss zwischen empirischen Ich (dem, was je meine Erfahrungen ausmacht) und dem transzendentalen Ich (das, was ich jeweils immer bin). Das Identitätsbilden und der Erfahrungsteil sind zwei verschiedene Momente, die ineinander übergehen und aufeinander bezogen sein müssen. Keine Identität ohne Selbsterfahrung, keine Selbsterfahrung ohne Identität.
Berücksichtigen wir diese Selbstfähigkeit zur Identität, so ist das, was unsere Vergangenheit ausmacht, vor allem eins: Sie gehört zu uns, in der Weise, wie wir sie denken. Vergangenheit und Identität erzeugen sich eins in eins. Darüber hinaus muss sie einheitlich gedacht werden, um uns überhaupt einheitlich erfahren zu können. Vergangenheit kann nicht portioniert werden, wie es uns passt, denn dann wäre sie nicht unsere Einheit. Wie geht dies aber überein mit der Tatsache, dass in der Vergangenheit Dinge geschehen sind, die besser nicht zu uns gehören? Abspalten können wir sie nicht ohne Weiteres, denn dann würden wir uns als Einheit verleugnen. Klar, wir versuchen nicht unbedingt an diese Ereignisse zu denken. Was ist aber, wenn eine ganze Kindheit nicht mehr zu einem Menschen gehören kann, weil diese von Grausamkeit durchsetzt war? Wie sollte dieser sich als Identität fassen, wenn er jeden Sonntag missbraucht worden ist oder noch schlimmer, wenn er jeden Tag die grausamsten Taten hätte erleben müssen? Die Erfahrung als Einheit erfährt hier die tiefste Erschütterung. Das, was uns mit uns verbindet – Einheit – ist empfindlich geschädigt.
Die Unterstellung der Identität, das heißt die Unterstellung von Weltzusammenhang kann nicht ohne Weiteres für diesen Betroffenen gelöst werden. Wie sollte nun Sophie Stein den Blick zurück überhaupt wagen können, ohne daran zu zerbrechen? Es erscheint mir daher äußerst plausibel, dass die Symptome der multiplen Persönlichkeit erst innerhalb der Behandlung vollends zur Reifung kommen können. Angelegt ist ein splitternder Fels der eigenen Biografie, der durch Spiegelbruchstücke des verletzten Selbst betrachtet immer nur Verwirrung und die tiefsten Selbstzweifel auslöst. Mit der Verteilung der Ereignisse aber auf verschiedene empirische Aktzentren und der Reinterpretation als vollständige Persönlichkeiten wäre einiges gelöst und überhaupt Persönlichkeit vorerst gewonnen. Der Schritt der Persönlichkeiten aufeinander in einer Therapie müsste folgen (Ich sage das natürlich ohne therapeutische Erfahrung und ohne Idee wie eine Therapie überhaupt abläuft. Ich bitte darum mir dieses nachzusehen.)
Die Gegenhypothese: Persönlichkeiten, die vollends schon immer da waren
Nun ist meine Darstellung natürlich keinesfalls empirisch angewandt, sondern eine Ãœberlegung zu den vermuteten Fehldiagnosen „multiple Persönlichkeit“. Ich lasse mich hier von groben, philosophischen Intuitionen zum Selbstsein der auf Hegel folgenden Anthropologien leiten. Demnach ist es schlussendlich Ziel eines jeden, sich als Selbst überhaupt erst zu gewinnen, denn Ich bin nicht immer schon da oder wie Sartre es gerne formuliert: Die Existenz (also das Selbstsein), geht der Essenz (dem faktischen Selbstsein als Körper und als einheitlicher Zusammenhang in der Zeit) voraus. Um sinngemäß mit den Worten von Peter Sloterdijk zu sprechen: Das zur Welt kommen, hört nicht schon mit dem biologischen zur Welt kommen auf, sondern das Zur-Welt-Kommen vollzieht sich einzig in der Identitätsbildung.
Michaela Huber vertritt hier offenbar einen anderen Ansatz. In einem Vortrag beschreibt sie ein Kind, dass auf die äußerst sadistische Gewalt ihres Peinigers mit einer Aufteilung der Persönlichkeit reagiert. Die nächtlichen Vergewaltigung führten irgendwann dazu, dass es „hinausflog in den Sternenhimmel“. Da die Gewalt kein Ende nahm spaltete sich das Kind immer weiter, „bis die einzelnen Anteile wie die Eisschollen auseinandertrieben, über den Horizont der Wahrnehmung hinaus, und sich in manchmal freundliche und vertraute, manchmal feindselige oder völlig unbekannt erscheinende Gestalten verwandelte.“ (zitiert nach http://www.heimkinder-ueberlebende.info/Michaela_Huber_berichtet_von_der_6._internationalen_Tagung_der_Deutschsprachigen_Sektion_der_ISSD_-_International_Society_for_the_Study_of_Dissociation_-_3._und_4._November_2006.html – Ich habe noch keine Primärquelle zur Hand. Dies folgt allerdings noch). Offensichtlich geht Huber davon aus, dass die multiple Persönlichkeitsstörung schon vor der Therapie oder Entdeckung durch die Betroffene selbst existiert. Nach meinem Wissensstand – wobei ich nochmals betonen möchte, dass ich ein Laie bin – erscheint mir jedoch die These plausibler, dass im Nachhinein eine unglaubliche Identifikationsleistung seitens der Betroffenen stattfindet, so dass es den Anschein hat, dass der Therapeut die multiple Persönlichkeit induziert hat.
Insofern wir nun aber beide Perspektiven (die von Füllgrabe und Huber) unterscheiden, so ergibt sich für mich auch bei Füllgrabe keine Alternative zur multiplen Persönlichkeit. Es ist die Fähigkeit mit der Grausamkeit in einem Leben ein kontrolliertes Leben führen zu können. Hier lässt sich auch noch mal der gravierende Unterschied zur Schizophrenie erkennen. Die Dissoziation erfolgt, um überhaupt ein Leben nach diesen schwerwiegenden Ereignissen führen zu können; es ist eine kognitive Lebensleistung, während mir eine Schizophrenie als Wahnvorstellung eher als organisch-bedingt erscheint.
Schauspieler der multiplen Persönlichkeit
Zu der Unterstellung der Schauspielerei muss noch einiges gesagt werden, denn genau verstehe ich den Einwand nicht. Es kann zwar durchaus sein, dass Straftäter versuchen durch Vorgabe dieses Phänomens „Multipler Persönlichkeit“ als unzurechnungsfähig beurteilt zu werden, dennoch ist mir nicht klar, ob dies als eine pauschale Unterstellung an alle Verdachtsfälle von multipler Persönlichkeit gelten soll. Als ich Sophie Stein zu dem Schauspielereieinwand befragte, entgegnete sie, dass sie dann schön doof wäre, dass sie sich zur Darstellerin einer multiplen Persönlichkeit entschieden hätte, anstatt mit diesem Talent gleich zum Fernsehen zu gehen. Ich interpretiere die Sache hier daher in ihrem Sinne etwas anders. Es geht wohl eher um die Frage, wie Schauspieler gut spielen können. Dafür können sie dissoziieren, weil sie so vielleicht besser Momente anderer Personen imitieren können. Das heißt im gewissen Sinne erschaffen Schauspieler sich schwache Formen einer multiplen Persönlichkeit. Das heißt nun aber nicht, dass Sophie Stein eine Schauspielerin ist, sondern, dass sie offensichtlich zur Identitätsbildung in Bezug auf ihre Vergangenheit auf ähnliche Fähigkeiten wie Schauspieler hier allerdings als Schutzfunktionen zurückgreift, wobei sie bei der Ausprägung ihrer Dissoziation einheitliche Personen erzeugen kann, was eine Leistung ist und mehr als nur Schauspiel.
Zu den Personen ist ja auch hinzuzufügen, dass sie nicht permanent die anderen Personen ist. Beispielsweise schläft sie auch oder Personen übernehmen verschiedene Routinetätigkeiten wie putzen oder den Mailordner aufräumen. Das hier als lebensnotwendige Schauspielleistung zu interpretieren, die bei weitem das Können eines Schauspielers auf der Bühne übersteigt, halte ich somit nicht für verkehrt. „Person“ heißt im Übrigen durch etwas hindurch Tönen – per sonare – und stand in der Antike noch für die Maske. Es charakterisierte den Schauspieler tatsächlich, war aber zugleich immer die Funktion, die wir im Alltag übernehmen. Und Sophie Stein übernimmt diese Personen im existentiellsten Sinne zum Überleben.  Wenn nun diese Personen in ihr ihre Abwesenheit als Aufenthalt in gelben oder grünen Zimmern beschreiben, so kann auch dies wieder als Leistung ihrer dissozierenden Fähigkeit interpretiert werden. Die einzelnen Persönlichkeitsmomente interpretiert sie selbst als Einheit, die nun mal ohne Daseinslücken existieren müssen und so erzeugen sie Vorstellungen von imaginären inneren Räumen. Interessant wäre es an dieser Stelle gewesen, hätte ich in den Interviews an diesen Stellen Fragen zur Zeitwahrnehmung in diesen Zimmern gestellt, denn hier wäre sogleich eine empirische Überprüfung dieser These möglich gewesen.
Schluss
Mit dem Dargestellten glaube ich nun, die Kontroverse  um die Echtheit von multiplen Persönlichkeiten eher angeheizt als entlastet zu haben, möchte aber hinzufügen, dass ich Sophie Stein so weit vertraue, dass ich mir ihr Verhalten unter dem groben Konzept „multiple Persönlichkeit“ am ehesten erklären kann, als unter Konzepten von Induzierung, Einbildung oder Schauspielerei. Was mir vollkommen absonderlich erscheint, ist im übrigen diese Schauspielerhypothese, wenn sie denn nicht existentiell interpretiert wird.
In Zukunft werde ich auch Interviews mit den verschiedenen Persönlichkeiten Sophie Steins zur Verfügung stellen. Ich möchte dabei betonen, dass es hier nicht meine Aufgabe ist, Sophie Stein als multiple Persönlichkeit zu interviewen, sondern dass es hier um die Veröffentlichung einer Fallgeschichte geht, die auf unsere Gesellschaft zurückverweist. Das Faszinosum „Multiple Persönlichkeit“ wird bald hinter den Geschichten, die sie geprägt haben, verschwinden und die Frage nach einer gewaltlosen Gesellschaft in den Mittelpunkt rücken. Natürlich verbleibt aber das Phänomen „Multiple Persönlichkeit“ für das ich kein Experte sein muss, da ich keinerlei therapeutische oder diagnostische Absichten habe.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, insofern Sie mehr erfahren möchten, sei wiederum auf die Seite von Sophie Stein verwiesen (www.flugbegleitung.blogspot.com) sowie auf die Seite von netzwerkB (www.netzwerkb.org), wo ich als Beirat tätig bin und wo das breite Themengebiet der sexualisierten Gewalt von vielen Seiten beleuchtet wird und sich eine erste Anlaufstelle für Betroffene eröffnet. Nach wie vor würde ich mich freuen, wenn sie diesen Blog abonnieren.
Norman Schultz
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Hallo Norman,
gestern bin ich auf deinen Blog gestoßen und konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Deinen Eintrag zur MP finde ich sehr spannend, allerdings ist mir eine Sache ein Dorn im Auge: wieso vergleichst du durchgehend Schizophrenie mit der MP? Das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun, zumal ein an Schizophrenie Erkrankter nicht gleich „verrückt“ ist. Vielleicht hast du es nicht so gemeint, wie ich es interpretiert habe, aber ich finde es unangebracht, Schizophrene automatisch als Verrückte abzustempeln. Auch mein bester Freund ist schizophren, „verrückt“ ist er allerdings nicht.
Liebe Grüße,
Alexandra
Hallo Alexandra,
das stimmt, ich habe nicht intensiv darüber nachgedacht. Schizophrenie sind meines Erachtens Wahnvorstellungen zumindest kenne ich es aus der Literatur und ordne das als negativ ein. Es kann durchaus sein, dass ich im Kontakt mit Betroffenen dazu meine Position ändere und dass es Betroffene gibt, die damit sehr gut zurecht kommen. Es tut mir leid, ich will da niemanden auf die Füße treten? Wie äußert sich denn bei ihm die Schizophrenie? Das würde mich interessieren und warum sollte es nicht verrückt sein? (Im Kontakt mit multiplen Persönlichkeiten betonen diese immer sie seien nicht schizophren und werten es so negativ. Vielleicht ist das falsch.)
trotz allem einen gruß von mir.liza
Hmm, dieser Artikel ist schon etwas älter, will trotz allem meinen Senf dazu geben.
Ich wurde nie hypnotisiert. Ich hatte Symptome die auf DIS (dissoziative Idenditätstörung = MP) schon bevor ich die Diagnose bekam (logischerweise), auch wenn ich es nicht auf diese Diagnose zurück geführt hätte oder habe.
Ich wurde programmiert. Satanskulte und Abrichtung von Persönlichkeitsanteilen sind nicht erträumt oder erfunden sondern traurige Tatsache. Ich persönlich habe das Buch Vater unser der du bist in der Hölle nicht gelesen und werde es auch in Zukunft nicht, aber ich weiß um was es in dem Buch geht und ich kenne diese Geschichte ohne dass ich dieses Buch lesen müsste. Weil es meine Geschichte ist. Und nicht nur meine. Ich habe in meinem Bekanntenkreis mehrer multiple, und von denen sind 2 deren Geschichte das auch ist. Die Epigenetik zeigt uns heute deutlich wie das Gehirn schwerste, wiederholte Traumata verarbeitet und wie es zu dieser Spaltung kommen kann. Und es zeigt wie ein Täter sich dies zu Nutzen machen kann. Das Stockholm-Syndrom ist weithin akzeptiert und ist trotzdem unglaublich. Die Abrichtung von multiplen Kindern durch Folter und somit der induzierten Persönlichkeit die sich daraus entwickeln soll ist genauso Fakt wie das Stockholm-Syndrom. Ich finde es anmaßend und es macht mich verdammt wütend dass dies hier angezweifelt wird. Organisiertes Verbrechen (Kinderpornoringe) und „Satans“-Kult gehen Hand in Hand. Und viele der Kinder die dieser Kult „abrichten“ bzw programmieren will, sterben bei dem Versuch und werden als Unfalltode oder sonstige dokumentiert.