Das Ego, letzter metaphysischer Rest – Wie Demokratie Antidemokratie bedingt

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Demokratie zwischen Egozentrismus und Gleichheit (Bild: Veronika Kluscar www.kunst-und-gedanke.de)

Europa stemmt seit mehr als 300 Jahren den Druck der Revolutionen. Wie ein Atlas, der die ganze Welt auf seinen Schultern tragen will, ächzt dabei ein Kontinent, der es allen irgendwie durch demokratische Gleichheit recht machen will, aber damit nur allen irgendwie auf die Füße tritt. Inzwischen wollen mehr als 300 Millionen Menschen einen Nenner. Mit dieser Aufgabe aber besiedeln Demokraten seit 300 Jahren metaphysisches Neuland. Wie sollten mehr als 300 Millionen Individuen, die irgendwie im selben Boot der metaphysisch Obdachlosen rudern, für einander ein Dach bauen? Moderne Menschen treffen auf ein Problem: Wir können uns nicht mehr kennen. Würden wir eine Sekunde an jeden EU-Bürger denken wollen, würden wir mehr als 10 Jahre benötigen. Ohne ein metaphysisches Konzept, das mehr darstellt, als die laue Suppe an Realität, in der wir schwimmen, kommen wir nicht weit. Welche Metaphysik soll uns nun helfen? Viel bleibt nicht übrig: Vor allem der aufklärerische Glaube an den Menschen entpuppt sich nach und nach als spezizistisch und verachtet die Natur. Nach den Religionen gehen uns irgendwie die Konzepte aus.

Die Demokratie lieferte als Großsystem niemals ein Dach für die metaphysisch Obdachlosen, Demokratie verwies eher auf die löchrige Athmosphäre über uns. Weil aber schließlich nichts besseres bekannt wäre, begriffen andere die Demokratie wie einen metaphysischen Himmel. Das Versprechen auf das Paradies war dabei stets größer als die irdische Freiheit.

Unter diesem Freiheitsversprechen der Demokratie belasten sich nun die Bauern und Arbeiter. Pflichtbewusst als Politikinteressierte fordern sie die demokratische Freiheit und machen Sonntags ihr Kreuzchen wie ehrenhafte Demokratiesoldaten. Seit der Wahlbeteiligung als Opium für das Volk liefern die Wahlberichterstattungen wenig Historisches. Wahlen geben den Wählern allein das Gefühl mit ihrer Stimme bei dem großen und angeblich gutmütigen Riesen „Nationalstaat“ an einem Tisch der Freiheit zu sitzen.

Im Heer der Demokratiesoldaten sind Stimmenthalter zugleich unliebsame Deserteure, die nicht verstehen, dass wir uns im Kampf um die Freiheit befinden. In anderen Staaten schließlich, so die Argumentation der Demokratieverliebten, würden andere ehrhafte Demokratiesoldaten schließlich für die Stimmen des Deserteurs sterben. Das Resultat ist simpel: Wenn einer nun den ganzen Tag seine demokratische Arbeit macht, sich engagiert, ehrenamtlich aufs Glatteis geht, sich politisch beteiligt und sich dann aber für den lauen Pups am Wahlsonntag nicht erwärmt, dann gilt er als undemokratisch und wird wie ein pöbelnder Staatsfeind behandelt. Wer nicht wählt, habe im Nachhinein sein Recht auf freie Meinung verwirkt und dürfe sich nicht mehr beschweren. Stimmenthaltung stellt die Demokratie in Frage und  die gewöhnliche Demokratie mag ihre Feinde nicht.

Die Stimme aber wird im Volk immer einer einsamer Schrei bleiben. Stimmen finden sich nicht in den Hymnen der Nation. Meine Stimme spende ich daher im nächsten Jahr an ein armes Kind in der dritten Welt. Eine lächerliche Spende, da sie dem Kind nichts nützt und zynisch meine Position präsentiert. Ich halte von einer Demokratie, die sich als Wahlpropaganda versteht, wenig und wenn wir Stimmen spenden, wird dies deutlich.

Die Noch-Wähler feiern dagegen ihre Demokratie. Auf Wahlparties suggerieren sie uns, dass wir wählen gehen sollen. In medialen Zeiten verbietet sich die Ehrlichkeit der Politiker, denn medienwirksam gerät ein Einzelner Satz wie einer Schneeball zur donnernden Lawine, wenn er nur den Hang der Medien hinunterrollt. Der Einzelne glaubt so bald die Wahlpropaganda für das Wählen: Im Meer der Stimmen könnte doch letztlich die eigene Stimme der Tropfen sein, der den heißen Stein durchhölt. Was wenn meine Stimme doch die Münze auf Kippe in eine Richtung stoßen würde? Mit diesen Märchen halten sich Demokratien ihre Wähler bei Laune. Noch schlimmer, wenn alle so denken würden wie ich, hätten wir keine Wähler, ergo keine Demokratie. Dass Demokratie aber nicht aus den Kreuzchen auf Papier besteht, sehen wir an den Ländern, wohin schlichte Menschen, die Zettelwirtschaft der Demokratie exportierten. Wenn alle so denken wie die Wähler wird die Welt eben auch nicht besser.

Über die naturgemäßen Enttäuschung schiebt sich die Demokratie wie ein unbekümmerter Eiszeitgletscher hinweg. Es gibt keine Alternative.

Doch irgendwann begreift auch der Einzelne, dass die Welt nicht mit seiner Stimme seine Sprache sprach, bloß weil er ein Kreuzchen machte. Eine neue Diktatur ruft sich in jedem von uns jeden Tag aufs Neue aus: Die Welt müsste doch anders sein. Es müsste doch nur eine Realität da sein, die genauso ist wie wir, eine Welt, die doch so einfach und bewundernswert wie das eigene Ich ist. Und so lauert schon an jeder Straßenecke genau die Partei, die uns nicht vertritt. Mit Ironie reflektiert dann ein Ego, das es wie jeder andere besser weiß: Die Politik hätte versagt und dieses jammert es auf allen Kanälen.

Was wir aber sehen, ist nicht Politikverdrossenheit, sondern die Gleichschaltung aller Stimmen in der Demokratie, die als Resultat nur die Unmöglichkeit des Einzelnen in der Gleichheit hervorhebt. Je stärker daher die Demokratie wird, desto stärker ragt der Einzelne in ihr als unintegriberarer Rest hervor und findet sich nicht in dem, was als Idee begann, aber als System übrig blieb. Schließlich sind es Wutbürger, die sich gänzlich missverstanden fühlen.

Der Einzelne verschwindet im steten Wachstum der Gesellschaften und gerät zum immer größeren Ego und Individuum. Dies heißt: Die Demokratie bringt den Individualismus, doch der Individualismus schmeißt die Demokratie letztlich zu den Dingen, die wir nicht brauchen. Politiker sind doof.

Genau benommen pochen wir also auf Individualität und auf die Partei, die endlich genau unsere Interessen vertritt, doch die eine Partei, die genau uns vertritt, könnte niemand anderen vertreten. Unser Ich findet schließlich nimals Repräsentation im Großen der Allmacht, es sei denn wir wollten Diktator sein, die Ein-Mann-Partei, die alle wählen oder die zumindest nach unserer Auffassung gewählt werden sollte. In jeder Demokratie steckt dadurch der Gedanke von der Macht des Einzelnen, der doch irgendwie glaubt, das Volk zu sein.

Wie also umgehen mit dem letzten Rest an metaphysischer Ich-Kultur, den die Demokratie irgendwie verteidigt, aber auch nicht integrieren kann?

Lest weiter auf unserem Blog Kunst-und-Gedanke.de vor allem zum Künstler Jonathan Meese und der Rolle der Kunst in einer Demokratie.

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