Fukushima und die Frage nach dem richtigen Handeln – Alltagswelten und komplexe Welten im Vergleich (Teil 1)

Nach Spiegel-Online liegen die Brennstäbe in Fukushima trocken und sind nicht gekühlt (http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,762838,00.html) Das ist natürlich eine sehr schlechte Nachricht, denn, so wird auch auf Spiegel-Online geschlussfolgert, ist davon auszugehen, dass große Teile der Brennstäbe in Block 1 zu einem Uranklumpen verschmolzen sind, der sich nun auf dem Boden des Reaktordruckbehälters befindet. Desweiteren heißt es, dass dieser womöglich schon Löcher in die Schweißnähte am Boden gefressen habe. Eine Möglichkeit sei daher, dass der Klumpen sich durch den Stahl weiter nach unten hindurch brenne und es im Kontakt mit Wasser zu einer „verherrenden Dampfexplosion“ kommen könne. Tepco verweist aber die geringe Außentemperatur des Reaktors und gehe daher nicht von dem heißen Souffléklumpen aus.

Verwirrung
Was also tun? Wenn nur alle Wege richtig wären. Wohl eher nach links, denn 2 Strichmänchen haben Recht ;)

Genau genommen aber gäbe es zu wenig Informationen und so finden sich auch Gegenstimmen, nach denen zu urteilen, eine katastrophale Entwicklung jederzeit noch möglich ist. Zumindest müssen wir aber meiner Meinung festhalten, dass das eher „unwahrscheinliche“ Restrisiko höher ist als jemals zuvor.
Zu meinen vorherigen Fukushima-Artikeln
Ich hatte mich ja im Monat zuvor in vier Artikeln zu Fukushima geäußert. Vorrangig habe ich mich dabei auf ethische Aspekte angesichts einer Katastrophe, die eine ganze Bevölkerung bedroht, konzentriert (Beitrag zu: Das Leben der Vielen wiegt mehr als das Leben der Wenigen). Ich hatte aber auch das zögerliche Eingreifen der japanischen Regierung angemahnt und dieses mit dem wesentlich effektiverem Eingreifen in Tschernobyl verglichen. Im Nachhinein wirken meine Forderungen zugegebener Maßen etwas naiv. Zum Beispiel, dass Tepco die Kontrolle entzogen werden solle und wir die ganze Sache militärisch lösen sollten. Es wirkt naiv, da die Lage nun unter Kontrolle erscheint. Ich denke aber, dass die Aspekte weiterhin Gültigkeit besitzen, wenn wir überlegen, dass Tepco zwischenzeitlich andachte, alle Arbeiter abzuziehen und die Anlage sich selbst zu überlassen.


Ein kritischer Punkt ist immer wieder der Vergleich mit Tschernobyl. Ein solcher Vergleich wird von vielen Kommentatoren als unseriös abgelehnt. Hier möchte ich jedoch einwenden, dass ein Vergleich jederzeit seriös ist, nur eine entsprechende Gleichsetzung könnte unseriös erfolgen. Vergleichen heißt nicht Gleichsetzen (das sollte sich doch rumgesprochen haben). Das Krisenmanagement der Russen schätze ich nach wie vor als besser ein, zwar wurde erst 48 Stunden nach dem Ereignis die Evakuiierung durchgeführt. Dieses aber auch, weil in Moskau wenig Informationen zum tatsächlichen Vorfall bereit standen, sobald die Lage aber klar war, wurden alle möglichen Hebel in Bewegung gesetzt.
Über diese Frage können wir aber an anderer Stelle streiten. Die Frage nun ist: Was kann ich mit weiteren Blogbeiträgen zu diesem Thema leisten? Nun, ich denke, wir können die Katastrophe als Ausgangspunkt nehmen, um über das Verhalten in komplexen Situationen nachzudenken. Ist es sinnvoll so viel wie möglich zu handeln, auch Überschusshandlungen zu vollziehen oder ist es besser, abzuwarten und Informationen zu sammeln? Bevor ich allerdings diese Frage in Ansätzen klären kann, will ich einen theoretischen Rahmen erarbeiten. Dieses will ich mit Bezug auf Dietrich Dörners „Logik des Misslingens“ durchführen.

Dietrich Dörners „Logik des Misslingens“
Nehmen wir an, Sie sind Diktator (ein guter Diktator natürlich). Sie regieren das Volk der Moros, einer fiktiven Population irgendwo in Ostafrika. Ihnen steht Geld zur Verfügung und sie können entwas gegen die Tsetsefliege unternehmen und damit die Rinderherden pushen, sie können Gesundheitsdienste einrichten. Sie können düngen, verbesserte Getreidsorten anbauen, Weideflächen besser bewässern. Sie können Brunnen bohren. Ihnen stehen alle Möglichkeiten offen. Was würden Sie tun? Nehmen Sie sich einen Moment Zeit und denken Sie darüber nach.

Dietrich Dörner hat Ende der 80er solche und ähnliche Simulationsspiele mit Probanden durchgespielt. In vielen Fällen gingen die Eingriffe der Probanden allerdings gründlich schief. Die Versuchsteilnehmer agierten natürlich mit viel Ehrgeiz und machten sich daran Probleme zu lösen, ohne zu bedenken, welche Konsequenzen eben diese Problemlösungen haben würden. Man übersah, dass unsere Welt ein „System von interagierenden Teilsystemen“ ist und auch der Morostaat ein solch komplexes Geflecht darstellt (Dörner 1989:12). Es gibt keine einfachen Probleme in einer komplexen Welt.

Unser alltägliches Denken und die komplexe Welt
Allein aus evolutionärer Perspektive ergäbe sich schon, dass unsere Denkmechanik nicht dazu geboren wurde, um die Welt zu erkennen, wie sie ist, sondern um Probleme „ad hoc“ zu bewältigen (vgl. auch Dörner 1989:13). Es mag Überschüsse an ontologischer Einsicht geben; Momente, in denen wir den Kopf zum Horizont heben oder hoch in den Sternenhimmel schauen; im Großem und Ganzem aber ist unser Denken vor allem an die Alltagswelt angepasst. In dem Sonderband der Kölner Zeitschrift für Sozialforschung unterscheidet Dörner daher zwischen diesen zwei Welten: zwischen  einer Welt auf die unser Denken passt, nämlich die Alltagswelt und einer Welt der komplexen, unbestimmten und langsamen Prozesse, kurzerhand KUL-Welt genannt. Bei den Moros, wo Sie ja jetzt Diktator sind, handelt es sich um eine KUL-Welt.

Was bedeutet nun der Fakt, dass es eine Welt der komplexen, unbestimmten und langsamen Prozesse ist? Nun, das heißt, dass unser Eingreifen immer mit unsichtbaren Problemen behaftet ist. Zwar hat zum Beispiel das Mannöver, die Tse-Tse-Fliege zu bekämpfen den Effekt, dass die Häufigkeit der Schlafkrankheit verringert wird und damit der Bestand der Rinder sich erhöht, es ergeben sich aber einer Reihe langfristiger Kehreffekte. Zum Beispiel ist die Vernichtung einer Insektenpopulation ein Eingriff in einen urwüchsigen Regelkreis. Verschwindet eine Population wirkt sich dieses auf die Räuberpopulation aus. Die Veränderung von Räuberpopulationen hat den Effekt, dass sich wiederrum Konkurrenz und andere Beutepopulation anders entwickeln, die dann das ökologische Gleichgewicht verändern. Zwar wird zunächst ein Anstieg der Rinderpopulation erzielt, damit aber wird der Regelkreis der natürlichen Umwelt sensibilisiert. Zunächst hat dies keine Konsequenzen. Mit dem Anstieg der Rinder aber zugleich, erfolgt auch ein Anstieg der Lebenserwartung der Menschen aufgrund verbesserter Nahrungsmittelversorgung. Ohne effektive Geburtenregulation erhöht sich damit der Populationsdruck der Menschen. Das Gesamtsystem kommt also näher an den Rand von Kippwerten, unbemerkte Wendepunkte, wo sich ein eigentlich stabiles System mit einem Schlage unwiderruflich verändert. Zum Beispiel könnten dann plötzlich ausfallende Regenfälle das nun veränderte System einem Streßtest aussetzen. Was aber in dem zuvorigen System hätte gut kompensiert werden können, stellt sich für das neue System als Katastrophe heraus. Eine unmerklich veränderte Vegetation aufgrund der stärkeren Beweidung und der veränderten Räuber-Beutebeziehungen kann wird nun so stark beschädigt, dass die nun größere Bevölkerung nun plötzlich mit einer Nahrungsmittelnot konfrontiert wird. Rinderherden sterben weg und auch große Teile der Bevölkerung. Dörner zitiert Fälle in denen genau dies eingetreten ist.

In den Simulationsspielen sind aufgrund mehrdimensionaler Ursachen die Population nach zwanzigjähriger Prorperation oftmals überraschend vermindert worden. Es gab unvorhergesehene Hungerskatastrophen, die fast die gesamte Population überhaupt ausgelöscht hätten. Nach 20 Jahren lassen sich natürlich keine eindeutigen Ursachen mehr spezifizieren, wir können darüber nun spekulieren, welche Regelkreise dafür verantwortlich waren. Es ist wie die Frage, was Krebs ursprünglich ausgelöst hätte: Was wir auf kurze Sicht schnell erklären können, ist bei langfristigen Problemen aus der Masse der möglichen Ursachen heraus nicht mehr eindeutig zu klären. Es muss daher keineswegs die beschriebene Ereigniskette sein, die zu Überlastung des Systems führt. Mit jedem Eingriff aber, stellen sich hingenommene und noch nicht erkannte Risiken ein.

Der Umgang mit komplexen Welten muss daher den gewöhnlichen Gutmenschenverstand verzweifeln lassen. Das sind jene Menschen, die Sätze faseln wie: „Die Vernunft darf niemals siegen!“ oder: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Was aber für die Alltagswelt vielleicht ganz nett klingen mag, darf nicht ohne weiteres auf Systeme der komplexen Umwelt übertragen werden. Leider können wir den Hunger als Systemproblem nicht ohne weiter lösen (hierzu auch mein Artikel zum Welthunger als überschätztes Problem); es ist äußerst schwierig Lebensbedingungen durch aktive Politik zu verbessern. Die neugegründeten Organisation „Ingenieure ohne Grenzen“ sicher als ergänzendes Pendant zu den Ärzten ohne Grenzen versuchen natürlich sehr bedacht Hilfsleistungen mit Rücksicht auf die Nebenfolgen zu dosieren, dennoch stellt sich die Frage nach der richtigen Hilfe (Diesen Punkt hatte ich zunächst falsch dargelegt und entsprechend korrigiert. Leider finde ich den Zeit-Artikel dazu nicht mehr; eine Aussage war aber, dass Hilfe bedingt, dass Menschen Hilfe als selbstverständlich annehmen und so zum Beispiel technische Geräte auch dementsprechend halbherzig behandeln würden. Gerade in Sierra Leone wäre die Ergebnisse daher oftmals ernüchternd. Dies schmälert aber nicht den Wert solcher Organisationen. Es zeigt nur auf, dass die Frage sehr dringend ist, welche Hilfsleistungen die richtigen sind. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich die Entwicklungspolitik seit der Veröffentlichung von Dörners Buch – immerhin Ende der 80er – gewandelt hat. Es wäre interessant hierzu Einschätzungen zu hören. Ob aber Nachhaltigkeit prinzipiell möglich ist ist eine andere Frage). Die Komplexität der KUL-Welten übersteigt oftmals leider den guten Willen der Helfer. Hilfreich ist es daher erstmal, die Funktionsweisen von KUL-Welten und Alltagswelten systematisch zu unterscheiden.

Alltagswelt
KUL-Welt
Wir haben es hier mit kurzen so genannten Totzeiten/Reaktionszeiten zu tun. Wenn ich zum Beispiel beim Auto auf das Gaspedale trete, dann beschleunigt es. Der Lichtschalter knipst das Licht an.
Hier können die Totzeiten sehr lang sein. Es kann sein, dass ich eine Maßnahme durchführe, die die erhofften Wirkungen zeigt; Nebenfolgen aber treten erst nach 20 Jahren ein, wobei dann die Ursache, wenn es denn nur eine ist, schwer zu ermitteln ist. Es kann aber auch sein, dass die Reaktionszeiten sehr lang sind. So ist zum Beispiel in der Politik mit den Folgen einer Gesundheitsreform zumeist nicht in einer Legislaturperiode zu rechnen.
Die Eingriffe in Alltagswelten erfolgen unabhängig voneinander. Beim Auto schalte ich das Licht an und dies hat keine Auswirkungen auf die Scheibenwischer oder die Beschleunigung. Alles kann selbstständig geregelt werden.
Die Eingriffe bewirken erwünschte und unerwünschte Ereignisse, denn…, so wie Adorno noch die Indifferenz der Natur zum Ausdruck brachte,: „…alles hängt mit allem zusammen.“ In welchem Maße muss natürlich bestimmt werden. Es ist aber irrig, davon auszugehen, dass es in der Natur viele unabhängige Ereignisse gibt. Natürlich wird der Flügelschlag eines Schmetterlings nicht unbedingt einen Wirbelsturm auslösen. Diese Chaosmos-Theoreme sind maximal Stürme im Wasserglas. Es handelt sich aber bei unseren Eingriffen in KUL-Welten meistens um großtechnische Versuche. KUL-Welten zeichnen sich also durch Abhängigkeit aus.
Wir haben es mit starken Kausalketten zu tun. Kurz, wenn ich einen Baum fälle, fälle ich einen Baum. Oder wie Tom Hanks es feststellt:
Die Kausalketten sind hier schwach, das macht es auch so schwierig, diese zu identifizieren. Überlegen wir uns nur wie schwierig es ist, nachzuweisen, dass die minimale Erhöhung von wenigen zehntel Prozent an CO2 in der Stratosphäre zum Klimawandel führen soll. Was ist die Ursache, dass Arbeiter X mit seinem Auto zur Arbeit fährt? Oder was ist die Ursache von Arbeitslosigkeit? Es kann aber auch so verstanden werden, dass ein schwacher Grund starke Wirkungen hätte. So genannte Trigger-Effekte, wo wir durch unbedachte Tätigkeit ein System aus den Fugen werfen. Langfristig wirkende Strahlung von Stromnetzen könnte so etwas sein.
Es gibt kaum relevante Nebenwirkungen.
Da alles irgendwie mit allem zusammenhängt, hat alles Nebenwirkungen und Fernwirkungen.
Das System ist sehr transparent. Wir können schnell Gesetzmäßigkeiten ohne Probleme ableiten.
Intransparenz – Gesetze lassen sich aufgrund der schwachen Kausalketten und der vielen möglichen Gründe nur schwerlich ausmachen und sind sehr fallibel.
Das ist System ist linear und geordnet.
Das System weist nicht-lineare Lebenszyklen und Funktionsmechanismen auf und kann eher durch den Begriff „Chaos“  als durch den Begriff „System“ beschrieben werden
Alltagswelten können wir akkumulieren. Das Auto zum Beispiel ist die Summe aller in ihm verschalteten Regelkreise.
Bei KUL-Welten handelt es sich um Netzwerke, wobei das Ganze mehr ist als die Summe aller Teile. Das heißt, so viele Teile wir auch beobachten, fehlt uns der Begriff des Ganzen, ist unsere Betrachtung nie vor Fehlern gesichert. Was also ist zum Beispiel die Umwelt
Alltagswelten ähneln sich.
KUL-Welten reagieren fast immer anders. Sie sind fast nie gleich. Es gibt keine Regeln oder Rezepte.
           
Der letzte Punkt ist wohl der dramatischste. Wenn wir Probleme behandeln, dann berufen wir uns zumeist auf Erfahrungen; wir bilden Analogien. Diese Analogieschlüsse gelten aber nur für ähnliche Probleme. Nur weil ein Problem, aber ähnlich aussieht, heißt es nicht, dass es auch ähnlich ist. Ähnlichkeit ist zwar definiert durch viele Gemeinsamkeiten und wenige Unterschiede (andernfalls wäre es Identität), gerade minimale Differenzen können aber zu einem klassifikatorisch anderem Problemfall führen. In der Medizin (um ein einfacheres Beispiel zu bemühen) gibt es Krankheiten bei denen die Symptome nahezu identisch sind, Behandlungen für die eine Krankheit aber zu Todesfällen bei der anderen Krankheit führen können.
Zu den möglichen Eingriffen in KUL-Welten möchte ich im nächsten Teil etwas sagen. Wir werden dort das Morobeispiel näher erläutern und die Fehlerquellen der Handelnden erläutern. In einem dritten Teil will ich andere Simulationsspiele erwähnen und gemeinsam mit den Leser verzweifeln. Die Mathematisierbarkeit von nicht-linearen, dynamischen und sozialen Systemen steckt nämlich noch nicht mal in den Kinderschuhen. Es gibt diffuse, theoretische Rahmen, aber keinen Ansatz mit KUL-Welten überhaupt umzugehen. Mit diesem theoretischen Rüstzeug, das eher ein sanftes Seidenhemd der Theorie ist, werden wir dann nochmal über Fukushima nachdenken. Zwar werde ich auch keine Lösungen anbieten können, meine anfangs naiven Beiträge werden aber dann hoffentlich weniger naiv erscheinen.

Für alle, die sich in das Buch von Dörner mal hinlesen möchte, muss es nicht die teure, gebundene Ausgabe sein:

Teil 2 ist unter folgendem Link zu finden und weiterempfehlen nicht vergessen. Bis dann Norman.

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