Autismus ist also eine angeborene, unheilbare Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns. Anders kann Autismus aber auch einfach als abweichende Informationsverarbeitung gedeutet werden. Die Autisten macht dies deutlich. Für sie ist die eingeschlossene Welt ihrer Informationsverarbeitung ein eigener philosophischer Kosmos. Ich sehe allerdings zwischen beiden Bereichen einen Unterschied.
Nun gehöre ich womöglich zu den Menschen, die sich an der Andersartigkeit anderer selten stören, solange sie niemanden verletzen. Daher kann ich ihre starktes Statement für ihre eigene Welt, womöglich auch nicht mit der entsprechenden Sensibilität behandeln. Soviel aber: Jeder hat das Recht auf seine eigene philosophische Seinsauslegung oder Weise zu existieren, dieses sollte aber keinesfalls darüber hinwegtäuschen, dass wir Menschen sind, die vor allem sprachlich existieren und vor einen universellen Selbstanspruch gestellt sind. Es gibt einerseits eine freie ontologische Seite unseres Seins und andererseits eine selbstverpflichtende philosophisch-moralisch Dimension unseres Daseins.
Privatsprachenargument in der Philosophie
Die Autistin in dem Video vermerkt, dass sie von ihrer eigenen  ursprünglichen Sprache berichte. Was mag das bedeuten? Nun bin ich kein Experte im Feld der breiten philosophisch-analytischen Debatte um das so genannte Privatsprachenargument. Ich kann aber soviel sagen, dass es dabei im Wesentlichen um die Frage geht, ob es uns möglich ist, über Affektionen (Sinneseindrücke) sinnvoll nachzudenken, ohne dabei eine regelhafte Sprache zu verwenden. Es ist im Grunde die Frage, wie stark unser Denken sich von unserer Grundfähigkeit der Sprache trennen kann; es ist damit auch die philosophische Frage, ob unsere Sprache Welt überhaupt erst interpretierbar macht. Sind die Grenzen unserer Welt, die Grenzen unserer Sprache? Das ist natürlich eine Frage der Philosophie.
Ich folge dabei sehr stark Wittgensteins Privatsprachenargument, wobei jede Bedeutungsbezeichnung einer Regel folgen muss. Wäre dies nicht der Fall, so wäre die Bedeutungsbezeichnung sinnlos, da kein regelgerechter Bezug auf eine Entität zu verschiedenen Raum-Zeit-Punkten gegeben wäre. Der Bezugspunkt würde sich, wie schon Hegel gezeigt hatte als Nichts, herausstellen. Privatsprachen seien damit nicht möglich, da das Regelfolgen selbst schon immer Teil unserer sprachlichen Lebensform ist.
Keine symbolische Bedeutung
Nun merkt die Autistin allerdings an, dass ihre Interaktionen keine symbolische Bedeutung haben, also kein Bedeuten meinen und eher eine konstante Kommunikation mit der Umgebung darstellen. Sie interagiert mit dem Wasser und das Wasser mit ihr. Das Wasser bedeutet nichts als interagierende Umwelt. Hier aber zeigt sich schon der wesentlichste und philosophische Moment von Sprache: Die reine Interaktion nach Regeln. So ist doch im Mindesten auch die Reflexion über die Form der Interaktion Philosophie.
Was heißt es eine Person zu sein?
Da Menschen ihr nun aber regelgeleitete Bezüge auf unsere Welt des sozialen Miteinanders absprechen, sprechen sie ihr oftmals auch ab eine Person zu sein. Was bedeutet es nun aber eine Person zu sein? In der Wir-Form spricht die Autistin von den anscheinend solidarisierten Autisten. Dies empfinde ich als problematisch, da sie zunächst einen Sonderstatus für sich erbittet -in einer eigenen ontologischen Dimension- dann aber von einer homogenen Gruppe von Menschen redet, die ihren eigenen Informationsverarbeitungsradius haben. Wenn diese Gruppe homogen ist, so deutet es darauf hin, dass wir sehr wohl von einer gewissen Form der Gruppensprache gerechtfertigt reden können, andernfalls könnten wir sie nicht klassifizieren. Was die Autistin also deutlich macht ist eine spezifisch ontologische Sprachbenutzung.
An und für sich ist dies aber kein philosophisches Problem, sondern nur eine Frage der philosophischen Interpretation. Vollkommen richtig ist, dass die Mitteilung an die Welt nicht darüber entscheidet, ob jemand den rechtlichen Status einer Person erwirbt oder nicht. Dennoch aber ist mit unseren gesellschaftlichen Ansprüchen eine Reifung zur Person vorgesehen, die sie ja durchaus übernehmen kann. Auch sie kann sich in die Grenzen unserer gesellschaftlich akzeptierten Normbegriffe begeben.
Das heißt aber nicht, dass Menschen mit „normaler“ Informationsverarbeitung bereits Personen sind. Person zu werden ist die existenziale Aufgabe jeder Existenz. Und auch unser alltäglicher Personenbegriff entspricht nicht unbedingt dem existentialen. Damit aber begeben wir uns auf das komplizierte Feld der Philosophie und stellen die Frage, was eine Person überhaupt sei. Diese Frage ist philosophisch nicht einfach zu beantworten. Wo beginnen die Grenzen der Person? Beim Säugling, beim Kleinkind? Die Frage kann in vielfacher Hinsicht gestellt werden.
Person werden = Das Erheben von universellen Ansprüchen
Wenn Autisten nun unsere Sprache lernen, werden sie nicht deshalb erst zur Person. Das Tippen in unserer Sprache ist dabei nur eine Variante von vielen, zeichnet aber nicht eine Person aus. So zeigt die Autistin zahlreiche Interaktionen, die sie als regelgeleitetes Verhalten versteht: Riechen, Schmecken, Fühlen, Schauen, Hören. Allein die Reflexion über die Bedeutung aber ist philosophisch und unterscheidet sie von einem einfach Kausalmechanismus in der Welt. Die philosophische Reflexion auf sich selbst macht uns zu der Person, die wir sind.
Vielleicht leiden wir also an einem Fehler, genau die autistische Form des Seins zu erlernen? Gewiss leidet unsere Gesellschaft an Ignoranz. Dennoch kommen wir aber Interaktion bei über diesen Sachverhalt der Ignoranz doch sogleich auf den einen Seinsgrund alles verschiedenen Seienden zurück. Wir reden über eine Welt, ein Ich und eine Einheit. Das transzendentale Selbst des Seins und seiner Differenzierung in den entgrenzenden Variationen als Seiendes ist unhintergehbar und begleitet uns mit jedem Seinsgedanken selbst und mit jedem Seinkönnen. Hier teilen wir die Welt der Autisten mit den Autisten und die Autisten unsere Welt mit uns. Sein in uns differenziert sich zwar, aber wir verweisen alle auf denselben Grund der Möglichkeit unserer Begegnung. Hier ist sie, die eine Welt, in der alles seine Erscheinung nimmt, gleich in welcher Personenform wir uns den anderen darbieten, gleich welchen Modus der Auseinandersetzung wir wählen, gleich wie sich das Seiende uns zeigt. Alles kann nur vor dem Hintergrund einer immer schon bestehenden Einheit differenzieren. Entgrenzen ist die Philosophie dieser Aufhebung aller Differenz, auch wenn dies vielleicht nicht möglich ist. Dennoch philosophisch ist uns allen immer dieser unthematische Horizont des Seins gegeben und bestimmt uns in erster Linie als Mitseiende. Alles Seiende muss daher immer auch in seinem Sein entsprechend gewürdigt werde, Tiere, Dinge, Menschen und Umwelt, sowie das Ganze.
Dass also die Welt der Autisten ein Privatsprachenhimmelsreich mit einer abgeschnittene Seelen sei, sehe ich als philosophische Fehlinterpretation. Und dennoch wir müssen gerade diese Diversität im Reich des Seienden akzeptieren. Es gibt verschiedene Auslegungen des richtigen Lebens für jeden und so auch verschiedene Auslegungen des gesamten Seins als Seiendem. Diese Lebensauslegung (sei sie nun organisch bedingt oder gewählt) ist keine Frage des philosophisch-moralischen Diskurses. Wohl aber muss jeder, sofern er in der Lage ist, an der moralischen Lebensweise, die unhintergehbar ist, immer teilnehmen, weil er diese Lebensweise immer schon in Anspruch nimmt, wenn er für sich ein eigenes Leben beansprucht. Das Erheben eines Anspruches ist eine soziale Handlung und genau dies tut die Autistin in dem Video. Neben der reinen Seinsauslegung gibt es also immer noch die Form im Sein zu sein und das ist immer schon moralisch.
Wie ist Autismus philosophisch zu interpretieren?
Autismus ist eine Sozialstörung, ohne dass dies ausschließt, dass sich hinter der sozial kalten Fassade nicht ein Geflecht von Seinsinterpretationen verbirgt. Dass wir aber dennoch den Anspruch auf soziale Interaktion aufrecht erhalten, bleibt philosophisch-moralisch gerechtfertigt und daher ist es neben den vielen Seinsqualitäten, die Autisten philosophisch sicher mit größerer Intensität als wir besitzen, auch gerechtfertigt, moralische Verantwortung in einer Gemeinschaft von Mitseienden einzufordern und es als Sozialstörung zu betrachten. Dies schließt nicht aus, dass auch eine andere Weltverarbeitung mit einhergeht, wofür der Autist auch als Mensch gewürdigt werden muss. Wir behandeln aber zwei Bereiche: Einerseits den entgrenzenden Bereich der Ontologie (die Seinsauslegung), andererseits den Bereich der philosophisch-moralischen Lebensaspekte. Beide Bereiche müssen natürlich irgendwann in einer Lebensweise zusammengeführt werden, denn erst dort wird der Mensch frei und Person, für die Aspekte des Videos gilt es aber erst sie wieder auseinanderzuhalten. Ohnehin würde ihre Einheit erst in einer durchlebten Differenz zur Geltung kommen und entgrenzt werden können. Damit bin ich aber schon tief in Hegels Logik und hoffe, dass ich die Aufmerksamkeitsspanne meiner Leser nicht überdehnt habe.
Norman Schultz