Eigentlich lassen mich politische Ereignisse als Philosophen kalt. Meistens sind doch die tagespolitischen Ereignisse, wenn einer diese denn aus einer fiktiven Zukunft entgrenzt philosophisch als auch geschichtlich relativ unwichtig. Welche Ereignisse fallen mir denn ein, wenn ich 1000 Jahre zurück denke? Ehrlich gesagt, klafft da bei mir ein dunkles Loch im Gehirn. Blicken wir in die Vergangenheit zurück, so fallen uns zumeist sehr globale Entwicklungslinien ein, kaum einer erinnert sich aber an alle Schlachten der Griechen oder die politischen Tagesereignisse des Mittelalters. Genauso ist für mich das aktuelle Westerwellebashing kaum erwähnenswert. Ein Mann, der auf der Abschussliste, wie ein schmuddliges Klassenkind gemobt wird, interessiert mich als Philosophen herzlich wenig. Rein menschlich finde ich es allerdings unfair. Dennoch verbindet uns der Fall Westerwelle mit sehr spezifischen Ereignissen, die uns sehr deutlich im Gedächtnis verbleiben werden. Wie die Französische Revolution die philosophischen Freiheitsmomente, die in der Philosophie bereits angedacht waren, entgrenzte, dringt nun auch diese Philosophie der Freiheit in die arabischen Grenzen.
Dieser Tage fragen wir uns also, ob in der arabische Flächenbrand ähnliche, geschichtliche Züge wie der Französischen Revolution enthält. Der philosophische Gedanke nach demokratischer Mitbestimmung erfässt die Länder des nahen Ostens. Ich hatte allerdings mehrfach angedeutet, dass allein eine gewaltvolle Machtübernahme nicht alte Strukturen überwindet. Zu einer autoritären Tätergesellschaft gehören mehr Gegner einer Freiheitsphilosophie als nur ein diktatorischer Machthaber. Und so zeigte sich auch schon, dass die französische Revolution in der Art wie sie Europa erfasste über 200 Jahre dauerte bis alle diktatorischen Regime durchgespielt waren und sich eine Demokratie etablieren konnte. Auch in Tunesien und Ägypten zeigt sich, dass die Beseitigung eines Machthabers nicht sogleich Demokratie bedeutet.
Zur westlichen Realisierung von Demokratie müssen wir auch hinzufügen: Natürlich ist auch diese westliche Demokratie eine Diskriminierungsform der politischen Minderheit, was so zum Beispiel gerade bei einem Zweiparteinsystem wie in den USA schnell zu einer schmerzhaften Ohnmachtserfahrung führt. Unabhängig aber von der Annäherung an das philosophische Ideal der Demokratie, ist auch schon die Durchsetzung und Übernahme der Demokratie nur selten eine philosophisch vernünftige.
Gewalt der Freiheitsphilosophie? Demokratie aber wie?
Demokratie Jetzt! Gibt es hier eine Wahl? Denn auch die Forderung nach entgrenzender Demokratie entspringt einem Dilemma, denn Demokratie muss doch in dieser Form immer erst durchgesetzt werden. Ist das aber demokratisch? Und wie setzt sich eine Demokratie eigentlich durch?
Zunächst haben wir doch die Grenzen in einem Staat, der meinetwegen die Bürger vor sich selbst schützt und vielleicht auch den Staat und seine Grenzen nach außen verteidigt. Dass die Grenzen sich in der Philosophie immer als notwendiges Übel des Denkens manifestieren, hatte schon der Philosoph Hegel erkannt, warum aber diese Grenzen in der Wirklichkeit auch Bestand haben, war seine wesentlich philosophische Frage. Grenzen der Staaten sind also mit einem Schlag in der Welt, warum aber? Die wohl historische Erklärung lautet: Grenzen klären Besitzansprüche. Wo einst ein Mann sagte, dies ist meins und es noch niemandem gehörte, dort war der Rechtsanspruch geregelt. Einer wirklichen Philosophie der Freiheit konnte dies aber nicht gerecht werden. Staaten sind Gebilde, die Menschen willkürlich setzen, die in einem Moment der Geschichte entspringen und mit der Willkür immer auch eine Form der vernunftlosen Gewalt enthalten.
Was spielt sich nun in Libyen ab? Es lässt sich durchaus mit Russland vergleichen. Als dort die Demokratie doch wohl philosophisch eingeführt worden war, startete eines der größten Gesellschaftsspiele des Kapitalismus: „Wer wird Milliardär?“ Dieses Spiel wurde moderiert von Jelzin und Putin und es schlachteten sich die Russen ab, um am Ende die riesigen Güter eines Landes verteilt zu haben. Historiker vergleichen dieses Gesellschaftsspiel durchaus mit einem Bürgerkrieg. Die Forderung nach Demokratie ist bestimmten Mächtigen genehm, und wie auch in Russland gibt es einen riesigen Schatz in Libyen zu verteilen. War Gaddafi vor kurzem noch der reichste Mann der Erde (vielleicht ist er es mit seinen über 100 Milliarden über windige Kanäle noch immer), so warten schon andere Staaten, Industrielle und wer auch immer auf die „demokratische“ Verteilung der Güter.
Demokratie ist ein philosophisches Ideal, die Realisierung aber eine tagespolitische Tragödie, die in verschiedenen Ereignissen historische Ausmaße annehmen kann. Auch eine Demokratie muss durchgesetzt werden. Klar ist, herrschen soll das Volk. Welches Volk aber?
Wenn 10.000 Menschen sich auf einer Versammlung in Kairo zusammen finden, so handelt es sich ja gerade mal um 0,01 % der Bevölkerung. Selbst wenn eine Millionen Gegner auf den Straßen sind, so haben wir es gerade mal mit 1% zu tun. Mit welcher Menge an Protestestierenden ist also der kritische Grenzwert erreicht, da ein Regime sich nicht mehr schützen kann? In jedem Fall aber wird mit einer Masse unter 50% nicht demokratisch darüber abgestimmt, ob Demokratie sinnvoll wäre.
Demokratie soll es also sein, aber wie kommen wir dazu? Abstimmen können wir ja darüber nur, wenn wir Demokratie schon haben. Wir wissen aus der Geschichte, dass sich ein Volk gegen Demokratie entscheiden kann, aber wie entscheidet es sich dafür? Demokratie geht zurück auf Gewalt. Können wir in diesem Falle von Gerechtigkeitsgewalt sprechen? Heiligt der Zweck die Mittel? Demokratie um jeden Preis? In dieser Frage bin ich mir unsicher, wohl aber zeigt sich so, dass die Demokratie ihre Gönner hat. Wahre Demokratie hätten wir wohl erst, wenn die Demokratie nicht mehr durchgesetzt werden müsste, sondern wenn sie ohne Revolution erscheint. Aber wer will darauf hoffen?
Norman Schultz
Pingback: Die Gewalt der Demokratie (Grenzen der politischen Philosophie) – Philosophie EntGrenzen – Die Wissenschaft der Wissenschaften