Von der Philosophie des Denkens in der Taubblindheit

Wir sind alle Behinderte. Diese philosophische Grundüberlegung versuche ich auszubauen. Allein die Tatsache geboren zu sein, bringt demnach die Nachteile der Körperlichkeit mit sich. Weil wir uns aber ständig im Vergleich zu einer normierenden Mitwelt bewegen, glauben wir, der eine sei mehr, der andere weniger behindert. An dieser Stelle sehe ich allerdings eine mögliche Umkehrung der Verhältnisse: Wenn wir den Grundgestus jedweder Lebensphilosophie in den Blick nehmen, so ist der Behinderte stets jemand, der die Spannung zwischen Anspruch und Wirklichkeit in sich aufnimmt und als erstes erlebt. Wir haben diese Spannungen auch, aber im Vergleich zu einer sozialen Mitwelt sind wir übervorteilt. Philosophische Fragen treten erst an den Horizonten auf, wo die Grenzen unserer Macht erscheinen und wir Freiheit nur innerhalb unserer Möglichkeiten erreichen. Das heißt: Behinderte sind wir in dem Moment, wo unser Streben nach Macht an die Welt angrenzt. Wir bemerken, dass wir nicht alles können. So ist auch die asiatische Glücksüberzeugung viel eher, dass wir erst Leid (Grenzen) erfahren haben müssen, um wirklich glücklich zu sein. Dieses können wir auf unsere Menscherfahrung übertragen: Bewusstheit der Grenzen, dies bedeutet Behinderung.

Daher entfaltet die Abweichung von der Norm immer schon eine größere Nähe zur Philosophie, denn wir verweisen den behinderten Menschen schon früh auf seine angebliche Begrenztheit, so dass er, wenn er Glück hat, sich arrangiert. Wir angeblich Normalen aber arbeiten erst am Lebenssinn, wenn uns die Welt zu stark bedrängt und das durchschnittliche Glück keine unsichtbare Hülle des Wohlseins mehr um uns legt. (Gleichwohl ist empirisch anzumerken, dass zu wenige Behinderte eben auch die Chance zur Philosophie erhalten. Dies liegt allerdings an der Tatsache, dass wir die Behinderung verdrängen und nicht prinzipiell als Lebensqualität in den Katalog der menschlichen Eigenschaften aufnehmen. Zugleich eine schwierige Forderung, denn wir will schon als behindert gelten? Was sollte hieran positiv deutbar sein?) Wir müssen erst das positive Element aller Behinderung herausstellen, denn ich vermute darin den Ursprung der Philosophie und damit den Lebenssinn überhaupt. Doch es geht auch ohne die offenen Sinnhorizonte der Philosophie. In Aldous Huxleys Roman „Schöne, neue Welt“ stellt die Menschheit beispielsweise ihre offenen Horizonte mit den sinnlichen Genüssen zu.

Schöne, neue Philosophie 

Aldous Huxley beschreibt in „Schöne, neue Welt“ den Untergang der Philosophie. In staatlichen Brut- und Aufzuchtanlagen werden Menschen je nach Bedarf für die Gesellschaft gezüchtet. Der Staat entscheidet dabei über den nötigen Intelligenzgrad durch gezielte Behinderung der Menschen. So finden wir in dieser Dystopie ein sich selbst erhaltendes Kastensystem, ohne dass wir jemals die wirklichen Kontrolleure sehen. Das System erhält sich durch bestehende Sozialstruktur. Menschen haben so ein Interesse an Elitenbildung und zwar solange eine Vergleichsperspektive nach unten sozial erhalten bleibt (es ist anzumerken: Gewalt geben wir in der Gesellschaftsordnung fast ausschließlich nach unten weiter. Dann aber kommt die Gewalt schließlich in maßloser Intensität bei den Schwächsten an, die sie erst später weitergeben werden, nämlich den Kindern). Alle Kasten stimulieren sich bei Huxley zudem durch fortwährenden Konsum,  Sex und die Droge Soma. In der Konsumordnung eliminiert die Bevölkerung an sich das innere Bedürfnis nach Philosophie.

Der philosophische Moralskeptiker mag hier mit den Achseln zucken und fragen: „So what?“. Warum sollte eine solche Gesellschaftsordnung, die das größtmögliche Glück aller bedeutet, nicht erlaubt sein?

De facto lässt sich das Bedürfnis nach Philosophie nur in der Biografie verorten und nicht durch den Zwang der Gesellschaft gewinnen. Philosophie müssen wir leben und dies ist nicht innerhalb gesellschaftlich normierten Glücks möglich. Wo aber gewinnen wir die Philosophie? Nicht in der Gesellschaft, sondern im Leben. Doch wenn die gewaltlose Unterdrückung Teil unserer Gesellschaft ist, dann besteht wenig Hoffnung auf eine philosophisch-moralische Gesellschaft selbst. Dies mag in weiten Teilen der Welt heute der Fall sein, so dass wir schnell zu Zynismus neigen (Wir sagen: Es sei derart und daher müssten wir es akzeptieren. Doch der Einwand der Philosophie bleibt: Die Empirie kann niemals die Hoffnung auf Zukunft widerlegen).  Eine Gesellschaftsordnung mag wie bei Huxley funktionieren und ist in unserer Gesellschaft bereits zu Teilen wie bei Huxley implementiert, aber eine wahre Gesellschaftsordnung kann nur durch philosophische Einsicht bei allen Gesellschaftsmitgliedern entspringen. Diese Gesellschaftsordnung muss für die Zukunft in den Blick genommen werden, auch wenn es sie noch nicht gibt. Wo aber begründet sich die Wahrheit unserer Gesellschaft?

Wo hat die Philosophie ihren biografischen Anfang? 

Ein wesentliches Problem in unserer Gesellschaft besteht in der unhinterfragten Abhängigkeit auf unsere Sinne. So meint der philosophische Empirismus gar, dass wir nur denken könnten, was durch unsere Sinne in uns gekommen sei. Dies ist eine klare Absage an die Metaphysik und damit an das eigentliche Kerngeschäft der Philosophie, eine Absage an das Denken der Wesenheiten. Die Philosophie und das Leben beginnt hinter den Sinnen. Dieser Idee wollen wir uns mit einer Reflexion auf die Taubblindheit nähern.

Die Sinnlichkeit der Taubblindheit

Taubblindheit deckt natürlich noch einiges an Sinnlichkeit ab, dennoch erscheint es uns schwer vorstellbar, dass diese behinderten Menschen tatsächlich mit der Welt in vollem Umfang in Austausch treten könnten. Wie sollten diese Menschen zu Gedanken wie Lebenssinn und Gott kommen, wenn nicht durch die Sinne? Es scheint, da diese Menschen nicht normal seien, müssten wir an ihre Stupidität glauben. Ein Blick in die Zeitschrift für Taubblinde scheint dies zu bestätigen. Bei Wikipedia heißt es:

Zielgruppe sind jene rund 1500 Deutsche, die weder hören noch sehen können und deshalb Nachrichten weder handelsüblichen Zeitungen und Zeitschriften noch dem Rundfunk entnehmen können. Mit ihren 100 Exemplaren erreichen die Tagesnachrichten etwa sieben Prozent der maximal möglichen Auflage, d. h. sie werden unter den blindenschriftkundigen beinahe doppelt so häufig vertrieben wie die Bild unter der deutschen „Normalbevölkerung“.

Da die Betroffenen wegen der Einschränkungen aus ihrer Behinderung häufig nur über ein eingeschränktes Leseverständnis verfügen, erscheinen die Tagesnachrichten in leichter Sprache. Der Satzbau ist vereinfacht, Fremdwörter werden getilgt oder erklärt. Zudem werden die taubblinden Leser über die Aussprache neuer Wörter informiert. (Wikiartikel zur Zeitschrift für Taubblinde)

Taubblinde Menschen verfügen also aufgrund der angeblich enormen Einschränkung über ein stark eingeschränktes Leseverständnis. Wäre hier aber nicht der Verdacht angebracht, dass es sich um strikte intellektuell und philosophische Vernachlässigung der Taubblinden handelt?  Werner Herzog zeigt in seinem Film „Land des Schweigens und der Dunkelheit“ erschreckende Bilder über vernachlässigte Existenzen:

Skandalös ist die Nicht-Förderung der Behinderten und ich meine Behinderte. Zwar haben wir in unserer Gesellschaft weitesgehend die Schulpflicht eingeführt. Wir zwingen Menschen sich auf einen Weg zum Höheren zu begeben. Wir haben uns angeblich der Pressung der leeren Seiten, die wir sind, verschrieben (als wären wir eine Tabula Rasa, die nur beschrieben werden müsste). Wir haben das Konzept der Pädagogik – als wäre es ein Einstanzen von zu erlernenden Fähigkeiten – entwickelt, und dennoch haben wir diese Konzepte der Selbststeigerung nur auf bestehende, elitäre Schichten bezogen. Den eigentlichen Sinn der Bildung haben wir nicht verstanden.

Nur wer nach oben will, soll sich heute bilden. Bildung entspringt in unserer Gesellschaft einem Willen zur Macht. Bildung in den untersten Gesellschaftsschichten gleicht demnach einer unnötigen Dressur, so als würden wir Tieren nutzlose Kunststücke beibringen. Warum also die Energien auf Behinderte verschwenden, die ohnehin schlechter lernen? Wohin die Gelder stecken, wenn doch bei diesen Geschöpfen alle Bildung verloren wäre? Vielleicht sollten wir menschlich sein und sie so doch an einem zweiten Arbeitsmarkt unter Gleiche bringen, um doch zumindest minderwertige Arbeit zu verrichten, aber an ihre sinnvolle Existenz glauben wir nicht.

Wo also gehen wir über die Grenzen der Behinderung hinaus, wenn nicht schon dort, bei denen, die wir als Behinderte bezeichnen? Meines Erachtens haben wir das Konzept der Bildung noch nicht verstanden. Ich glaube an Bildung, aber nicht an Bildung, die uns interessenlos in den Blutkreislauf eines Wirtschaftssystems integriert. Ich glaube dort, wo wir unser Humankapital in Geld aufwiegen, ergraut all unsere Arbeit, die wir verrichten. Geld macht alle existentiellen Lebensleistungen, die wir in einem Acht-Stunden-Arbeitstag verleben zu einer grauen nicht-existenten Masse. Geld macht die Dinge für uns farblos, geschmacklos, gefühllos, tonlos, sinnlos. Geld löst die Arbeit in das Transaktionssystem einer funktionierenden Maschinenwelt ein. Dort aber hat die Bildung zum Charakter (wie es der Universaldilletant Goethe noch wusste) keinen Platz, denn dort funktioniert Bildung nicht, um effizienter zu arbeiten und mehr Kunst hervorzubringen, sondern nur um zu unserer Sinnlichkeit am Feierabend zurückzukehren.

Was will ich also? Ich verfolge schon ganz den Zug nach oben zu der höheren und besseren Leistung, aber ich will diesen Zug zum Höheren bei jedem Einzelnen relativ eingelöst sehen. Erst die letzte Besteigung der eigenen Gipfel ist die Würde, die wir in uns erarbeiten.

So wenig wie ich an den sinnlichen Feierabend und die Reebe am Weinberg, wodurch ich als alter Mann, das Sonnenlicht schimmern lasse, glaube, eben so wenig glaube ich an die Sinnlichkeit unseres Denkens. Die Besteigung der eigenen inneren Berge vollzieht sich nicht auf sinnlichem Terrain (gleichwohl die erste Sinnlichkeit, nämlich wir selbst, ein Steigbügel ist). Wir müssen Interesse entwickeln für das, was wir noch nicht sind.

Wenn wir nun die Behinderten in Betracht ziehen, so glaube ich, dass es sich um die zu geringe Aktivierung dieses Interessenpotentials handelt. Wenn die Zeitung für Taubblinde eine Zeitschrift für Blöde ist, dann machen wir etwas falsch. Wir müssen uns für die Dinge interessieren wollen und dies unterscheidet Gebildete von Nichtgebildeten. Dieses Interesse müssen wir allerdings erst erwerben und in anderen wecken. Die Frage ist natürlich wie wir dies erreichen? Und wie erreichen wir dies für Behinderte im Allgemeinen? Die Prima Philosophia ist daher die Kunst der Motivation. Wie motivieren wir uns, nicht nur die Sinnlichkeit in den Vordergrund zu stellen, sondern über uns selbst hinaus zu kommen? Wie lösen wir uns von der Haftung an die körperliche Schwerfälligkeit? Es mag leicht zu ersehen sein, wie aus dieser formellen Leugnung des Körpers auch eine Ethik entspringen könnte. Dennoch müssen wir (dessen bin ich mir bewusst) auch die Sinnlichkeit unseres Selbst mit ins Höhere nehmen. Meine Beiträge über die Philosophie des Kochens mögen hierüber Aufschluss geben.

Bei Taubblinden erscheint nun diese Schwerfälligkeit akut, da sie angeblich nicht mehr über den Körper hinauskommen können. Ich glaube, die Intuition der meisten Menschen lautet dabei wie folgt: Wie sollen sie ein Wort lernen, wenn sie niemals ein Wort gehört haben? Aber Sprache hat weniger mit Sprechen zu tun, sondern mit der denkerischen Anordnung von Konzepten in unserem Kopf, die durchaus einen Bezug zur Außenwelt haben können, aber es nicht müssen. Ich kann mir Dinge denken, die es noch nie in der Außenwelt gegeben hat. Dies verweist auf eine grundlegend philosophische Fähigkeit, nämlich auf das Denken ohne den Inhalt der Welt. Hier erst entfalten sich die Begriffe von Gott, Welt und Seele. Gleichwohl wir immer auf Welt bezogen bleiben, ist die Welt nicht erst durch ihre Sinnlichkeit gesetzt, sondern immer durch unser Denken (welches in einem weiten Sinne nur als Sprache bezeichnet werden kann) gezeichnet. Mit der Sprache beseitigt sich die Blödheit in uns und wir sollten nicht glauben, dass nur Menschen, die artikuliert formulieren, Sprache besitzen.

In diese philosophischen Gedanken müssen wir tiefer eindringen. Im nächsten Artikel werde ich mich intensiver der Sprachphilosophie von Helen Keller widmen, die auch taubblind zumindest nicht mehr eine vereinfachte Zeitschrift lesen wollte (nichts gegen die Zeitschrift, aber ich glaube wir machen da etwas falsch). Wir werden uns damit auseinandersetzen, wie sie Sprache erlernte. Beim letzten Mal hatte ich schlechterdings den Fernsehfilm über Helen Keller verlinkt. Das Original mit Bancroft ist allerdings wesentlich intensiver. Für das „Fast-Theaterstück“ haben die Akteure sich regelrecht kaputt gespielt und womöglich zurecht den Oscar gewonnen (Schauspiel wurde damals theatralischer betrieben als heute). In dem Film gibt es den langen Weg zur Sprache zu sehen, den Taubblinde antreten müssen. Ohne Förderung aber bleiben sie jedoch in diffusen Konzepten in sich selbst eingeschlossen. Auch das Denken bedarf Austausch. Dieses zeigt der Film.

 

Noch in eigener Sache: Acta ist ja derweil ja in aller Munde. Doch die harten Konsequenzen sind schon jetzt zu spüren. Bei Flickr hat sich nun eine Firma eingekauft, die beginnt Creative Commons Lizenzen zu verwalten. Abmahnungen folgen, die oftmals den vernünftigen Preisrahmen übersteigen. Ich habe keine 6000 Euro und gleichwohl ich bei Flickr immer penibel auf das CC geachtet habe, gibt es nachträgliche Änderungen (jemand ändert seine Lizenz später). Da ich nicht für jedes Bild nun eine Festspeicherung anlegen und verwalten will, suche ich thematisch passende Bilder im Wikimedia-Archiv. Wenn ihr passende Bilder zu einem meiner Artikeln habt oder im bei Wikimedia findet, so sendet mir eine E-mail (norman(punkt)schultz1983(ät)gmail(punkt)com). Ich denke vor allem daran berühmte Kunstbilder zu verwenden, da ich so auch in das Metier eindringen kann.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und wenn ihr den Artikel bis hier her verfolgt habt, dann könnt ihr sicher auch unten auf den Like-Button klicken ;)

Bis bald
Norman Schultz

 

0Shares
Dieser Beitrag wurde unter Philosophie der Sinnlichkeit abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.