Von der Sprache in uns – Zur Philosophie in der Taubblindheit

Landkarten auf dem Körper - von der philosophisch-begrifflichen Dimension der BerĂŒhrung

Landkarten auf dem Körper - von der philosophisch-begrifflichen Dimension der BerĂŒhrung

Behinderung ist eine generelle Grundkonstitution von Menschen. Diesen philosophischen Gedanken habe ich versucht, in den letzten BeitrĂ€gen auszubauen. Es ging darum Behinderung aus seiner Minderqualifizierung herauszuheben und das Wort „Behinderter“ als eindeutige Bezeichnung fĂŒr LebensqualitĂ€t herauszuheben (Es geht dabei nicht um behinderte Menschen). Die BeitrĂ€ge waren:

 Taubblindheit geriet schließlich als Behinderung in einen Hauptfokus, wobei ich andere Behinderungen bald wieder in den Blick nehmen werde. Taubblindheit erscheint uns als lebendiges Grab. Wir können uns intuitiv nur schwer vorstellen, wie sich auch in diesen Menschen der gleiche Himmel an Begriffen aufspannt. LeergerĂ€umt gilt uns ihre Welt.

Als Philosoph beschĂ€ftigt mich nun diese Barriere der Sinnlichkeit, Taubblindheit, denn viele nehmen im Alltag an, dass das Sehen eine Grundbedingung von Erkenntnissen sei. Die Alltagsintuition lehrt bei ihnen, dass wir die Welt in Form von Videoclips in uns abspeichern. Das PhĂ€nomen der Taubblindheit widerspricht dieser Vorstellung. FĂŒr die Zukunft wĂŒrde ich mir von Taubblinden einephilosophisch-phĂ€nomenologische Analyse ihrer Erfahrungshorizonte wĂŒnschen.

Die QualitĂ€t des Lebens (davon bin ich ĂŒberzeugt) ist zumindest höher als in der Sinnlichkeit zu suchen.  Aus den Darlegungen von Arne FlĂ€chner geht dieses bereits. Erst die Eingeschlossenen tragen die höhere, begriffliche Hoffnung in sich. Aus seinen Tagebuchaufzeichnungen aus seiner Arbeit im Hospiz geht folgendes hervor:

„In den weißen nicht mehr sinnlichen RĂ€umen lag die Hoffnung in einer höheren Vernunft und dies war wesentlich mehr als es noch das GefĂŒhl hĂ€tte vermitteln können. Wenn alle GefĂŒhle sich zu Schmerz umschmelzen, der Körper nicht mehr in seiner Lust, sondern in seinem Wunsch nach Erlösung vergeht, dann kann einer nur noch mit der Vernunft ins Reine kommen. Im weißen Bett des Hospizes lag Herr B. Der Sommer fiel in alles Weiß des Zimmers, erhellte sein Gesicht. Der Sommer war alles, was er noch wahrnahm. Morgens zog ich die Gardinen auf, um ihm diese Strahlen zu gewĂ€hren. Die BĂ€ume rauschten vor anderen Zimmern, hier ging es um Licht. FrĂŒher hörte Herr B. noch den FrĂŒhling brechen, dann brach der Krebs ihm sein Gehör. Wir wussten, dass er noch empfinden konnte, aber er hatte keine wirkliche Sinnlichkeit mehr. Ein paar Hirnströme waren ihm geblieben. Sehen, Sprechen, sich bewegen, konnte er schon lange nicht mehr. Seine Zunge war ein geblĂ€hter Sack, der ihm rot zum Hals raushing. Vielmehr bleibt von Herr B.’s Gesicht nicht mehr zu beschreiben. Betrachtete ich Herr B., so sah ich einen im Schmerz aufgequollenen Menschen. Einen Menschen, der in sich lag, wie in einem Sarg, wie in einer Kontur von sich, die nur noch Schmerz als FlĂ€che war. Was soll ich sagen, wenn das GefĂŒhl die Menschen zerreißt, dann gibt es nur noch eine Kraft.“ (Das Leid der Sinnlichkeit. Hansa Verlag 1929:44)

Die Welt ist höher zu suchen als in ihrer Sinnlichkeit. Diese Einsicht hatte FlĂ€chner unserem Alltagsbewusstsein voraus. Letztlich trĂ€gt nur die Abkehr von allen WĂŒnschen in uns, die höhere Pflicht der Vernunft in sich, die selbst nur Erlösung und Vergebung in sich tragen kann.

In der Taubblindheit suchen wir nun den Ă€hnlichen Weg, der nicht ĂŒber die VisualitĂ€t fĂŒhrt. Dieser Weg ist zugleich ein Weg der Erlösung in der höheren Vernunft. Meiner Auffassung handelt es sich um Sprache. Wie aber sollten Taubblinde Sprache erlernen, wenn sie wie in einem Sarg begraben liegen? Diese Frage wirft die Frage auf, was Sprache eigentlich sei.

Videoclips im Gehirn – Was trĂ€umen Taubblinde?

Wir glauben oftmals, dass sich ein Film in unserem Gehirn abspielt. Ein philosophisch-neurophysiologische Frage sollte sich aber dabei sofort stellen: Wo sollten diese Videoclips als tatsÀchliche Bilder im Gehirn hinterlegt sein? Wie ein Video mit einem Fernseher funktioniert, so funktioniert eben nicht unser Gehirn. Die Analogie wenden wir unbewusst an, aber eigentlich ist sie umgekehrt. Unser Gehirn denkt, weil ein Video Àhnlich wie die eigene Perzeption funktioniert, daher muss das Video eines meiner gleichen Erfahrung sein. Das Video spielt Àhnliches ab, wie das Gehirn. Aber nicht das Gehirn funktioniert wie ein Video. De facto handelt es sich nÀmlich bei Videos nur um Punkte, die den Schein von Echtheit im Gehirn reprÀsentieren. Die Echtheit oder das Wahre aber schreibt das Gehirn mit seiner Verarbeitung.

Unsere unmittelbare Wahrnehmung ist im Gegensatz zu den Videos doch vielmehr ein Vorgang, der sich permanent in unserem Bewusstsein erregt. Hier ist es irrig von Bildern oder Videoclips zu sprechen, die von einem Außenprojektor an eine innere Kinoleinwand geworfen werden. Wir sind nicht die Kinobesucher in unserem SchĂ€del, die ruhig und besonnen die Vorstellung „Welt“ abwarten, sondern wir sind mit jeder Vorstellung aktiv involviert. An jedem Bild sprudelt ein inneres Interesse. Fokus und Erregung lassen unser Gehirn aktiv werden. Mehr noch bei langweiliger Außenwelt ziehen wir uns innerlich zurĂŒck, trĂ€umen mit dem inneren Auge von einer Welt, die anders sein könnte und auch hier sind wir wieder von Erscheinungen und deren eigener Echtheit geprĂ€gt. Daher zeigt sich fĂŒr die Philosophie: Wir mĂŒssen die Welt in der Art unserer Vorstellung befragen. Wir kommen damit auf eine wahrhafte PhĂ€nomenologie zu, die ich im Rahmen meiner Doktorarbeit an dem Philosophen Hegel belegen möchte. Aber auch an Taubblinden kommen wir einer solchen PhĂ€nomenologie auf die Spur. Was trĂ€umen beispielsweise Taubblinde, wenn sie mit ihren „Blicken“ abschweifen? GerĂ€uschlos und dunkel fragen wir noch der einzigartigen Erfahrungserkenntnis dieser. Welchen PhĂ€nomenen begegnen sie, wenn sie nicht GerĂ€usch oder Bild sind?

Was heißt es zu sehen? (Philosophie und Sinnlichkeit)

Fakten sprechen gegen die Tatsache, dass unser Gehirn sehenden Auges existiert: Erblindete, die ĂŒber einen komplizierten Mechanismus SinneseindrĂŒcke ĂŒber die Zunge „eingespeist“ bekommen, erlangen innere Bilder von den Objekten zurĂŒck. Heißt dies nun, dass sie mit der Zunge sehen können?

Nun das hĂ€ngt davon ab, wie wir den Begriff „Sehen“ interpretieren. Meines Erachtens zeigt sich bei diesen Blinden, wie alte neuronale Strukturen reaktiviert werden, die fĂŒr die ehemals visuelle Interpretation der Außenwelt zustĂ€ndig waren. ZungensinneseindrĂŒcke erzeugen irgendwann den konstanten Flow an Reizung dieser Neuronen, so dass ein Bild erscheint. Doch gleiche FĂ€higkeit haben auch Taubblinde. Helen Keller berichtet hiervon. Die taubblinde Philosophin beschreibt eindrucksvoll eine begrifflich erfasste Landschaft, so als wĂŒrde sie sehen können:

„Draußen erkenne ich durch Geruch- und Tastsinn den Grund, worauf wir gehen, und die Stellen, woran wir vorbeikommen […]. Zuweilen, wenn es windstill ist, sind die GerĂŒche so gruppiert, dass ich den Charakter einer Landschaft wahrnehme, eine Heuwiese, einen Dorfladen, einen Garten, eine Scheune, ein Bauerngehöft mit offenen Fenstern, ein FichtenwĂ€ldchen gleichzeitig ihrer Lage nach erkenne.“ (Quelle: wikipedia)

Hier ist nun nicht relevant, dass eine Vorstellung (die des Sehens etwa) durch eine andere Vorstellung (die des Riechens) ersetzt worden ist, sondern dass derselbe begriffliche Kosmos allen Dingen in ihrer Existenz zukommt und wir mit der Sprache, die erste Wirklichkeit in uns vorfinden. Nicht das Sehen strukturiert die Welt, sondern unser Denken in Begriffen.

FĂŒr unsere visuelle Philosophie muss also ein Umkehrschluss gelten: Was wir als Bilder meinen zu sehen, sind Interpretationen eines neuronal arbeitenden Gehirns. In diesem Sinne ist es philosophisch richtig, unser Gehirn als operierend mit Konzepten zu verstehen. Das Wort „Konzept“ kommt vom englischen „Concept“ und bedeutet auf Deutsch schlicht Begriff. Ein Begriff ist nicht etwa ein Wort, was wir dahin sprechen, sondern was wir im wahrsten Sinne des Wortes begriffen haben. Mit dieser Wortkette bekommen wir nun auch einen Einblick in die Frage, was eigentlich Taubblinde begreifen, nĂ€mlich (unvorstellbar fĂŒr den ein oder anderen) das gleiche wie wir: Eine rĂ€umliche Landschaft, die sich reprĂ€sentieren lĂ€sst. Es besteht keine Analogie zu einem Bild, sondern es ist vor allem die Art und Weise wie wir selbst Körper sind in einer Welt. Die Welt ist keine Bildkulisse, sondern permanentes Angrenzen an das SelbstverhĂ€ltnis, das wir sind.

NatĂŒrlich können wir noch auf die qualitativen Dimensionen der unterschiedlichen Sehsinne eingehen, aber auch hier werden wir nur auf die AktivitĂ€tsleidenschaft unseres Gehirnes oder Geistes treffen. Ich vertrete daher die Auffassung, dass diese Sinnesdaten alle unter dem selben einheitlichen Bewusstsein nach einem Prinzip zusammengefĂŒgt werden. FĂŒr mich macht es daher schon lange keinen philosophischen Unterschied mehr, ob wir vom Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, FĂŒhlen oder Riechen sprechen. Wir sind vor allem Denkende.

Sogar fĂŒr Lerntheorien gilt somit fĂŒr mich: Entscheidend ist der Mechanismus der verstehenden Verarbeitung und die Aufnahme in Konzepte, das heißt in Begriffe. Ohne Begriffe, kein Verstehen und keine Wirklichkeit. Niemand wird Klavierspielen aus dem GefĂŒhl erlernen, ohne sein Gehirn zu benutzen. Man stelle sich Bauch- und Herzmenschen vor, die ohne ihr Gehirn leben wĂŒrden, wo wĂ€ren sie, wenn sie sind? Maschinen ihrer Hormone nicht mehr. Erst im Geist gewinnen wir unsere QualitĂ€t, die wir selbst sind. Der Geist aber lĂ€sst sich nicht mit Bilder beschreiben, sondern am besten in seiner Funktion und hier stoßen wir auf die Sprache.  Gleichsam mĂŒssen wir nun das geheime Leben der Worte erforschen und in unsere Sprachen hinabsteigen. Wir tun es in allen Wissenschaften, als erstes aber tun wir es in der Philosophie. Nicht vergessen dĂŒrfen wir hier, dass die Sprache eine körperliche Auseinandersetzung mit der Welt darstellt und so ist es auch in der Taubblindheit noch am ehesten zu erspĂŒren, wenn Taubblinde ĂŒber ihren Körper den Kontakt zum Ganzen der Welt aufnehmen. Hellen Keller bewegte daher immer ihre HĂ€nde, wenn sie nachts trĂ€umte. Sprache ist Körper und so bewegen wir auch unseren Kehlkopf, wenn wir denken (leise und unbewusst). Sprache ist Schnittstelle zwischen Welt und uns. Dazu spĂ€ter mehr.

Bis bald

Norman Schultz

 

 

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