Philosophie und Behinderung – Gründe warum Behinderte die Stärkeren sind

Behinderte haben die größere Nähe zur Philosophie. Mit den Mängeln des Lebens konfrontiert, im Kampf um die angebliche Normalität stehen sie immer schon im Kampf der Überwindung ihrer selbst. Wo Menschen auf den Plateaus ihres Glücks mit Hautunreinheiten nicht ins Reine kommen, dort versuchen Armlose, Blinde, Taube, Gelähmte und seelisch Geschädigte weitaus höhere Hürden zu überwinden. Der Behinderte ist daher der Starke unserer Gesellschaft. Aber wer ist der Behinderte?

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Was ist das philosophische Verhältnis zum Körper bei Behinderung? (CC_Foto: familymwr)

Menschheitssinn und Erkenntnisgrenze

Unsere Menschheit ist nicht das Geschenk von Gottes Gnaden, so dass sich Industriegesellschaften zu einem hirnlosen Modepüppchendasein reduzieren lassen könnten. Eine Religionsphilosophie, die sich stetig nur bedankt für die Einfältigkeit ihrer Schöpfung bedeutet Stillstand. Eher sehe ich die Philosophie der Menschen durch fortwährenden Sinnstiftung und Überwindung von Widerständen gekennzeichnet. Demnach fragt auch die Philosophie des Transhumanismus, ob der Mensch sich als letzten Widerstand selbst überwinden muss (in uns ranken sich noch biologische Widerstände, welcher Mann oder welche Frau möchte schon seine/ihre äußere Hülle aufgeben, um dem Menschengeschlecht- und Schicksal zu entkommen?) Gleich welcher Mensch also, er ist behindert. Wo das Individuum daher heute in Glückssuche oder Stimulation von Bedürfnissen versinkt, dort beginnen in einer Philosophie die künstlerischen Aufgaben der Selbststeigerung. Doch eine Philosophie der Selbstüberwindung bedeutet womöglich zugleich die Selbstaufgabe. Philosophen sind daher Märtyrer einer sich womöglich entwickelnden Vernunft. Vernunft ist somit ein schmerzliches Unternehmen, weil nicht nur die Entfernung der Meinungsmissgeschicke aus uns, sondern letztlich auch das Ziel die Loslösung von den Bedingungen der Körperlichkeit ansteht. Das heißt wir stehen somit nicht vor Fragen des Individuums, sondern vor Fragen der ganzen Menschheit und ihrer Form. Menschsein heißt daher mit der wesentlichen Behinderung, nämlich sich selbst zu leben.

(Einzuwenden bleibt nur, wohin der Aufstieg in die intellektuelle Höhe führen soll, so meint die Philosophie eines Kant etwa, dass sich das Erkenntnisdilemma mit keinem noch so intelligenten Gehirn durchdringen lässt. Wir entdecken und entschlüsseln zwar immer mehr Superstrukturen, aber die Beziehung Teil Ganzes bleibt vor der Gesamtdurchdringung einer womöglich unendlichen Welt bestehen und damit haben wir auch immer nur Teilhaftigkeit in jeder unserer Erkenntnis.)

Behindertenphilosophie

Ich hatte bereits in einem vorherigen Artikel betont, wie wenig der Kampf der Behinderten um Normalität für mich im Mittelpunkt steht, sondern inwieweit alle Menschen die gleiche philosophisch-existentialistische Fallhöhe, die gleiche Behinderung vor sich sehen. Das heißt: Nachdem wir alle Gründe in ihren Grund versucht haben zu verfolgen, stehen wir alle vor dem selben Abgrund des Erklärens, vor der Lücke, die der Teufel lässt. Wir müssen allerdings diese Fallhöhe erst durch Sinnfragen erschließen und hier haben behinderte Menschen, die sich ihrer Behinderung bewusst sind, in ihrem Kampf um eine falsche Normalität bereits einiges gelernt: Sie wissen, was es bedeutet über den Körper hinaus kommen zu wollen.

Ich muss daher sagen: Selbststeigerungsphilosophie mutet wie ein elitäres Projekt an, dabei aber geht es um die Differenzierung unserer Gesellschaft. Ich behaupte, in einer Gesellschaft der Selbststeigerung kann noch jeder seinen Platz finden, weil einziges Kriterium für die Steigerung ein gewonnenes Selbst sein kann.

Die Idee dieser Selbststeigerungsphilosophie ist somit nicht, dass sich elitäre Philosophen wie Universaldilettanten in alle artfremden Belange ohne Grund einmischen und sich dabei als einzigartige Genies verstehen, sondern dass wir die Steigerungs- und Erkenntnisleistungen in allen Disziplinen als Selbstdisziplin hervorheben. Wenn wir die bekannte Genieformel bemühen, dass nur 1% Inspiration und 99% Transpiration den Erfolg bestimmen, so erkennen wir, dass in allen Sternstunden der Menschheit ein Selbstübender seine Hände im Spiel hatte.

Die Idee ist also nicht eine Gruppe hervorzuheben, sondern das Gesamtsteigerungspotenzial aller in sich selbst zu entfalten, denn wir müssen nicht sein, wer wir sind. Diese Selbststeigerung könnte gar Hunde betreffen, wenn sie aus ihren eigenen Antrieben beginnen etwas aus sich zu errichten, was über ihre Physis hinausgeht (dann aber müssten auch sie als behindert gelten). Fortwährende Übung, die über unseren Körper hinaus weist, gehört daher zu dieser Disziplin der Philosophie und das ist vor allem als Selbstdisziplin. Der Grund für alle Selbststeigerungen ist so auch nicht das hohle Elitäre, sondern letztlich der Menschheitssinn, sich selbst hervorzubringen, was nichts anderes als Philosophie ist.

Der Behinderte überwindet in diesem Sinne vor allem einen wesentlichen Widerstand, sich selbst. Die Ãœberwindung liegt bei ihm zunächst darin dieses Selbst bis zur Normalität zu meistern. Darüber hinaus ist es nun so, dass Behinderte in einer differenzierten Gesellschaft gar noch über die Normalität hinaus gelangen können. Wir haben längst nicht alle Leistungen erfasst, wozu Menschen fähig sind, aber ich glaube, es ist eine Tatsache, dass neben den „normalen“ Lebensentwürfen noch genügend für die Existentialleistungen behinderter Menschen, die von der Gesellschaft als behindert gefasst werden, übrig ist. Die Kunst ein Selbst zu werden, ist nicht an Körpernormalität gebunden, sondern an Behinderung. Leben heißt auch aus dem Nachteil, geboren zu sein, einen Vorteil zu erschaffen. Im Vergleich zu den Normalen, die sich so nie ihrer Behinderung bewusst sind, ist dieser Satz dem Menschen seiner Behinderung viel eher bewusst. Doch die Chance zu den Leistungen des Selbst muss dem Behinderten erst gegeben werden. Wir müssen erkennen: Wir sind anders, an eine körperliche Hülle gebunden, wollen Normalität und sind nichts anderes als alle im Menschsein gleichsam behindert.

Zwischen Behinderung und Normalität

Da müht der Behinderte sich zu den unerreichbaren Gründen der Körpernormalität, da ist der Körpernormale bereits in seiner Verzweiflung daran interessiert, wieder besonders zu sein. Der eine kann nicht er selbst sein, der andere will nicht er selbst sein. In der philosophischen Oszillation zwischen uns selbst (dem Selbst-Sein-Wollen und dem nicht Selbst-Sein-Können) spiegelt sich der Grundkonflikt zwischen unserer Vergangenheit und unserer Zukunft, zwischen Sein und Wünschen, zwischen dem, was ich war und dem, was ich sein möchte wider. Die Abgründe in sich Selbst zwischen Normalen und Behinderten sind gleich, aber der Behinderte, der immer schon für die Normalität kämpfen musste und von der Gesellschaft nicht als Mensch, sondern als Behinderter deklassiert wurde, kann dem Normalen etwas voraus haben: Bei ihm gehört Selbststeigerung zur Lebensphilosophie und ist das Normale. Das eigentlich Besondere ist bei ihnen eher als Normalität zu finden und daher ist er gar eher Mensch als Behinderter.

Nachtrag: Vielen Dank für den Hinweis von Wiltrud Kolligs. Vielleicht genügt zu sagen, dass ich den Menschen und so auch mich selbst als behindert erfasse. Das Thema ist nur angeschnitten und bedarf weiterer Argumentation, aus diesem Grund geht es in den nächsten Beiträgen vermehrt um Behinderungen.  Ich beschäftige mich wieder mit dem Phänomen der Taubblindheit, den Paralympics und dem Down-Syndrom. All dies, nur um zu zeigen, wie wir der Mensch nur aus Ãœberwindung einer ursprünglich in seinem Wesen verankerten Behinderung Mensch sein kann. Dem „Normalen“ allerdings ist dies seltener bewusst, als demjenigen, der nicht als Mensch, sondern als Behinderter deklassiert wird. Wir sind alle Krüppel und möchte daher nochmals auf diesen Artikel dazu verweisen. Mir liegt es fern, behinderte Menschen mit diesem Artikel verletzen zu wollen, aber vielleicht verstehen sie mir, dass es mir weniger um die konkrete Behinderung geht, sondern um die Existentialleistungen, die mit Behinderung verbunden sind.

Nebenbei: Aufgrund diverser Tätigkeiten (Aufbau anderer Blogs, meiner ehrenamtlichen Tätigkeit bei netzwerkB und meiner Dissertation) habe ich mich dazu entschieden, hier ab sofort nur noch Freitags zu posten. Dieses aber dann mit Konstanz. Ich hoffe ihr bleibt mir treu und twittert und shared weiter. Leider hat die E-mail-Abofunktion ausgesetzt. Wer per E-mail über meine Beiträge informiert sein möchte, der kann sich oben rechts gerne wieder eintragen (wenn ihr dies habt, bitte die Bestätigung nicht vergessen, das heißt mal im Spamordner eurer Mailbox nachschlagen, wenn nichts kommt), ansonsten vielen Dank für die Aufmerksamkeit.

Auf bald

Norman Schultz

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3 Antworten auf Philosophie und Behinderung – Gründe warum Behinderte die Stärkeren sind

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