Wir brauchen eine neue Intellektuellen-Kultur schreibt Krisha Kops in The European, dem Debattenmagazin. Schließlich, so werden wir anekdötelnd eingeführt, würde es auch Ernst Cassirer so sehen, der damals Albert Schweitzer als einen „Mann der Tat“ entdeckte. Kops Thesen sind simpel und alt. Wir hätten das Gleichgewicht von Theorie und Praxis verloren. Im Moment würde die Theorie regieren. Ganz im Gegensatz bräuchten wir wieder Philosophen mit „Schwielen an den Händen“. Philosophen, die wieder die Sprache ihrer Mitmenschen sprechen. Denn, wie sagte Schweitzer, „[a]lles Tiefe ist zugleich ein Einfaches und läßt sich als solches wiedergeben, wenn nur die Beziehung auf die ganze Wirklichkeit gewahrt ist.“ Eigentlich ein Text, der in jedes Jahrhundert passt. Beispiele oder soziologische Evidenz führt Kops daher nicht an. Ein wenig Plausibilität genügt. Ein Text, der plausibel genug ist, um auf einer kurzen Fahrt von der Arbeit nach Hause zu überzeugen. Wie eben auch bei Argumenten für Homöopathie, gegen die EU oder für Trump ist dies eine ausreichende Strategie. Hier ein Thesenüberblick:
- Unsere Zeit wird von Theoretikern beherrscht.
- Â Die Wirklichkeit sei im Grunde genommen einfach.
-  Philosophen müssen Praktiker sein.
Jede These ist problematisch, lässt sich aber bei allgemeiner Akzeptanz wunderbar in einen Syllogismus verpacken:
- Prämisse (1): Theoretiker missverstehen die Wirklichkeit
-  Prämisse (2): Die Wirklichkeit ist ein einfach und durch Praxis zu verstehen.
-  Konklusion:  Philosophen müssen Praktiker sein.
 Das gesamte Textkonstrukt ist schon ein wenig naiv. Als erstes wäre schließlich die Frage zu stellen, warum Theorie und Praxis überhaupt in einem extremen Verhältnis zueinander stehen können. Wie kommt es, dass wir Theorie und Praxis überhaupt gegeneinander ausspielen können? Hier müssten wir eigentlich auf ein bewährtes Konzept der Philosophie zurückgreifen: Dialektik. Wenn Philosophie nämlich die Rückkehr von den Extremen ist, wie es seither in der Dialektik der Fall ist, dann müsste Kops zunächst erstmal auf die Gründe reflektieren, warum Theorie und Praxis als Gegenspieler auftreten. Stattdessen zitiert er, wie bei diesem Thema schon Standard, die These Feuerbachs (nicht etwa die Engels‘ oder Marx‘):
„Es komme auf die „Marx’sche (und Engel’sche) These an, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern sie tatsächlich zu verändern.“
Nun ist Marx mit seiner Frage nach der Revolution jedoch nicht so einfach einzuordnen. Klar ist, dass er irgendwie meinte Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen. So weit die simple Interpretation von Marx. Die späte Publikation der frühen Manuskripte von Marx im Jahre 1932 entfaltete sich jedoch als eine Revolution in der Marx-Exegese. Zeigte sich doch, dass Marx zutiefst Hegelianischer Denker war. Praxis und Theorie waren in einer Weise aufeinander bezogen und verschlungen, die er von Hegel lernte und dann an dessen Logik kritisierte. Marx war somit eben auch ein zutiefst theoretischer Denker, der Dialektik von Hegel nicht als These, Antithese und Synthese verstand, so wie es oftmals von den Marxisten falsch verstanden worden ist. Ganz im Gegensatz konnte er Hegels Phänomenologie fortführen. Das heißt, er verstand Hegels Dialektik, nämlich eine Theorie aus der praktischen Beobachtung heraus zu entwickeln und die gewonnenen Einsichten immer nur als vorläufig anzusehen. Gegen die Misinterpretation der an den Universitäten herrschenden Rechtshegelianer verstand Marx es daher die Dialektik an der Gesellschaft nachzuvollziehen. Das heißt, Marx war erstens kein Praktiker und zweitens waren seine Thesen eben auch nicht einfach, sondern wissenschaftlich komplex. Nun gut, auch Kops geht über seine Einfachheitsthese hinaus: „Sie [die Gesellschaft] wiederum lediglich verändern zu wollen, ist, wie die Geschichte bezeugt, auch nicht die Lösung.“ Die Einsicht in die Komplexität von Veränderung bringt Kops daher zu seiner Schlussfolgerung, es müsse Gleichgewicht zwischen Theorie und Praxis geben.
Mit jener Position kann er dann auch über Sloterdijk und Precht urteilen. Da Sloterdijk im Elfenbeinturm wohne, wäre er abzulehnen. Precht als Praktiker (warum er nun Praktiker ist erschließt sich mir nicht) wäre demnach vorzuziehen. Sloterdijk, ganz im Gegensatz zu Kops Beurteilung und Vorgehen, erkennt jedoch, dass Philosophie eben die Rückkehr von Extremen ist. Bei Weitem ist er Kops simpler Forderung nach mehr Praxis überlegen. Für Sloterdijk wäre sofort klar, dass die Philosophie weder in Praxis noch in Theorie anzusiedeln ist, sondern das beides Begriffe sind, die erst einer philosophischen Überlegung entspringen. Hier ist auch das Problem mit Precht, den Kops ja lobend hervorhebt. Ganz im Gegensatz zu Kops These ist Precht Theoretiker, der sich als Praktiker verkauft, weil er Dinge einfach sagt. Wenn man nun jedoch Dinge einfach sagt, die in Wahrheit kompliziert sind, dann abstrahiert man zu stark, ein Fehler, der eigentlich dem Theoretiker widerfährt. Wie verhält es sich aber darüber hinaus mit Kops These, dass die Welt eigentlich ganz einfach ist? Erwarten wir wirklich, dass ein hochkomplexer, mathematischer Beweis einfach ist? Es ist schön, wenn er vereinfacht werden kann, aber es ist nicht notwendig der Fall, dass Mathematik am Ende einfach ist? Einfachheit ist nicht notwendig ein Kriterium für Wahrheit. Dinge, die wir behaupten, sollten eher in einer bestimmten Weise wahr sein. Lieber etwas Kompliziertes, das wahr ist als etwas Einfaches, das falsch ist.
Kops hingegen folgt seiner Einfachheitsthese und benutzt die steife und simple Unterscheidung von Schul- und Weltbegriff, eine wenig reflektierte Unterscheidung, um die Situation auf den Begriff zu bringen:
Schulbegriff: „die streng akademische, fachorientierte, mit Fachtermini durchsetzte Philosophie“ (Kant).
Weltbegriff: „fachübergreifenden, für alle (oder zumindest viele) relevante Thematiken auseinandersetzt“
Gemessen an der simplen und ihm nützlichen Unterscheidung, kann Kops dann ihm genehm schlussfolgern: der „„public intellectual“, ist hierzulande oft mehr dem Schul- als dem Weltbegriff verschrieben.“ Weltbegriffsphilosophen wie Richard David Precht wiederum würden für ihre Popphilosophie von den Schultheoretikern angefeindet werden. „Dabei…“, so Kops weiter, „versucht er genau das, was Schweitzer tat und Cassirer forderte: das thematisieren, was alle betrifft, und zwar mit einem Duktus, der nicht nur für eine Bildungselite zugänglich ist.“ Ein paar Argumente streut Kops dann: „Precht hat sicherlich mehr Menschen dazu gebracht, über ihren Fleischkonsum oder das archaische Schulsystem nachzudenken.“
Ein paar Beweise zur Wirksamkeit von Precht wären schon ganz hilfreich. Und Schulreformen gibt es leider schon immer und bei allen Zeiten haben Philosophen über starre akademische Betriebe geschimpft. Dass Precht sich die Schule als Kritikgegenstand herausgreift, ist daher kein Novum. Ob Philosophie im Übrigen wirklich Menschen zum Vegetarismus inspiriert, ist ebenso fragwürdig. Die Freiheit unserer Erscheinungen determiniert sich an vielen Objekten unserer Umgebung. Lebenswandel sucht sich seine Gründe. Ich bezweifle daher, dass ein allein philosophisches Argument Leben so grundlegend verändert. Ich glaube eher Leben verändern sich und dann finden wir philosophische Argumente in der Reflexion. Precht wird vor allem von Vegetarieren zustimmend verdaut. Letztlich sind es Ideen, die uns ergreifen und zur Praxis bewegen, die hat aber Precht nicht erfunden, sondern sie zirkulieren in unseren Debatten.
Aber gut, wie sieht es damit aus. Sollte ein Philosoph einfache Lebensmaximen vorgeben? Kops These dazu: Intellektuelle (Weltbegriffbesitzer) müssen den Massen praktisch helfen. Er schreibt konkret:
„Die Aufgabe der Intellektuellen sei es daher, die Massen intellektuell zu fördern, um so die erwünschte Veränderung in der Gesellschaft bewirken zu können.“
Hegel war schon immer skeptisch gegen den überaktiven Weltverbesserer. Nicht, dass er diesen als Gutmenschen disqualifiziert hätte. Das ethische Leben ist auch notwendig, weil es einem inneren Willen folgt. Problematisch ist jedoch, wenn der einzelne Intellektuelle glaube, mit seiner Idee die Gesellschaft zum Besseren zu verändern. Das Problem des Radikalismus spielt hier hinein, worauf Sloterdijk zum Beispiel sehr weise in seinem Buch  Die schrecklichen Kinder der Neuzeit hinweist: Wir haben vielleicht mehr zu verlieren als nur unsere Ketten, verweist er einem seiner Artikel. Hegel würde hier fortführen, dass wir Individuen maximal Konzepte schöpfen, die sich praktisch vielleicht im weiteren Weltgeschehen über die Jahrhunderte realisieren. Für Hegel schöpft sich Veränderung daher beim praktischen Theoretisieren. Der Theoretiker, der die Welt erst verstehen will, bevor er über sie urteilt, ist Ursprung der Veränderung. Precht hingegen will nicht verstehen, sondern verändern oder besser Veränderung fordern.
Am Ende wird klar, dass Kops sich eher einer populistischen Argumentation bedient, um letztlich die Eliten abzuurteilen. Seine Thesen: Aufgrund verschwindender Klassen, und dem Aufkommen der Popkultur tendieren nach Kops die Eliten zum asketischen Rückzug. Zur Kunst formuliert er folgende These: „Kunst wird intellektualisiert und lässt „ungebildeten“, anders als in der klassischen Moderne, gar nicht erst einen Schritt in das Museum oder die Galerie wagen.“
Für meine Gegenthese wäre es nicht schwer Argumente zu finden: Es gibt sehr wohl noch Kunst, die es mit der Gegenwart aufnimmt. Ganze Sinfonische Orchester verkaufen ihre Zeit an Popmusik und Kollaborationen sind an der Tagesordnung.
Weitere These Kops um Rückzug der Eliten ins Unverständliche: „Das Gedicht hermetisiert sich zunehmend, hinterlässt immer mehr Weiß auf dem Papier und Unverständnis beim Leser.“
Meine Gegenthese: Gedichtformen haben sich pluralisiert. Es wird mit mehr und mehr Formen des Ausdrucks experimentiert. Hip Hop ist alltäglich.
Warum Kops nun gerade, die Forschung am Instrument und am Wort in den Mittelpunkt rückt ist fragwürdig. Sollen wir alle Kindergedichte schreiben und nur noch Hip Hop veranstalten? Sollen sich sinfonische Orchester lieber um den ESC sorgen? Oder darf es noch erlaubt sein, auch im lyrisch- und musikalisch-praktischen Sinn zu „forschen“?
Letztlich ist auch Kops Elitebegriff absurd. Das Gedicht war doch noch nie Teil der Elite. Eliten sind doch eher diejenigen, die Marktglitches ausbeuten und sich daran ungerechter Weise bereichen. Wahrscheinlich haben nur Robert Gernhard und Hans Magnus Enzensberger Geld mit Gedichten verdient, ansonsten sind die geschmähten Theoretiker des Gedichts und der Musik eher Hungerkünstler und keine wirklichen Eliten. Diese Eliten ins Visier zu nehmen hilft nun wirklich niemanden. Sollten wir so zum Beispiel Kant, einem der Gründungsväter der aufklärerischen Freiheit, seine Intellektualität vorwerfen?
Fazit: Kritik am Establishment ist alt, unglaublich alt. Kritik an der Theorie ist mindestens ebenso alt. Daher eine Gegenfrage: Was wäre wohl aus unserer Gesellschaft, wenn Kant sich dazu entschieden hätte ein Precht seiner Zeit zu werden? Kop bedient sich einer einfachen Analyse um der Denkfaulheit eines Populargebildeten das Wort zu reden. Weniger Pop und ein mehr and Intellektualität wäre seiner Analyse jedoch nicht abträglich.
Warum ist Peter Sloterdijk also die interessantere Figur? Weil Precht einfache Antworten mit simplen Analysen anbietet, welche zu häufig zu sehr simplifizieren. Sloterdijk bietet weniger Lösungen, sondern baut großartige Analysen. Im Hegelianischen Sinne bedeutet dies, der Gesellschaft neue Konzept für die Zukunft zur Verfügung zu stellen.
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Norman Schultz, Pittsburgh Juni 2017 (155, 45)
Guter Artikel. Mit manchen Punkten Ihrer Kritik – natürlich nicht allen – stimme ich sogar überein.
Beste Grüße
Vielen Dank für den Kommentar, bin überrascht, dass sie sich zur Kritik äußern. Dissonanz ist die Spannung im Leben. Ich verstehe das jedoch eher so, dass der Artikel im Debattenmagazin eher polemisch gestaltet sein muss und Sie ansonsten differenzierter argumentieren würden.
Das mit der Polemik sehen Sie richtig, obwohl wir an dem einen oder anderen Punkt dann doch auseinander gehen. Beispielsweise gestehe ich ein, dass Sloterdijk als Zeitkritiker und -analyst weitaus profunder ist als Precht, wenn nicht sogar als der Rest hiesiger Philosophen.
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