Grenzen der Kunst – Zur Philosophie von Material und Fortschritt

1972, Umberto Mariani, Joseph Beuys, Jean Pierre Van Tieghem, Documenta 5, Kassel
Mariani [CC BY-SA 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)]


Kunst konnte sich in ihrer heutigen Profession nur entwickeln, weil mit der Zeit Materialien günstiger wurden. Erst die verschiedenen Materialien ermöglichten Malern ihr Potenzial auf Leinwänden in einfach verfügbaren Farben zu entfalten. Höhlenmaler mussten im Gegensatz sich in einer technisch beschränkten Gestaltungsdimension orientieren. Die Frage nach der Beziehung von Material und Kunst ist daher eine Frage ihrer Geschichte und ihrer Möglichkeiten. Dabei mussten Höhlenmaler bereits Verständnis für technische Abfolgen entwickelt haben:

„Meist wird die Hand als Schablone auf die Wand gelegt, und mit der oben beschriebenen Versprühtechnik wird  Farbe aus  Holzkohle,  Rötel  oder  Ocker, mit Wasser angerührt, auf die Wand gesprüht.“ (Wikipedia)


Die ersten Kunstversuche scheinen noch in unseren Kindergärten als Tradition erhalten zu sein. In Kindergärten fertigen wir Schablonen an und erstellen Handnegative. Doch wo Kinder ihre ersten Körperkopien erstellen, den Körper in das Bild übertragen, so hatte Kunst damals womöglich noch andere, teilweise brutalere Dimensionen. Offenbar gehörten rituelle Verstümmelungen zum Kunstbetrieb:

„Handnegative, die durch scheinbar fehlende Fingerglieder auffallen, lassen sich mit einer Modifikation der „Schablone Hand“ durch Beugen der betreffenden Fingergelenke […] durch einen Zustand nach  ritueller  oder  medizinisch  indizierter  Finger(teil)amputation erklären […]. Der Fund mehrerer isolierter Fingerglieder in Gravettien-Schichten der polnischen ObÅ‚azowa-Höhle (Westkarpaten) wird als Hinweis auf rituelle Verstümmelungen an diesem Ort diskutiert. “ wikipedia

Wenn Hugo Ball sich also zum ersten mal nach Verstümmelung sehnte, um die Kunst zur Ewigkeit zu machen, stand er bereits in einer langen Tradition der Verstümmelungskünstler.

Ob man sich ein Herz auf die Stirn tätowieren sollte?
Alle Welt würde dann sehen: das Herz ist ihm in den Kopf gestiegen.
Und das es ein tintenblaues, agonisches Herz wäre,
könnte man auch sagen: der Tod ist ihm in den Kopf gestiegen.
Wir brauchen nur aufzuschreiben, wie tief uns der Schrecken traf.
(Hugo Ball)

Kunst ist kein losgelöstes Produkt, sondern ist intensiv mit unserer Lebensweise und unserem Selbstverständnis verbunden. Ausschweifende Kunstexperimente waren in der Steinzeit jedoch limitiert, denn auch der Höhlenmaler bedurfte viel technisches Know-How:

„Als Anstrichmittel wurden Eisenoxidpigmente für rote und  Manganoxide oder Holzkohle für schwarze Farben verwendet. Durch unterschiedlich erhitzten Ocker konnte die Farbpalette vergrößert werden, doch wird im Allgemeinen angenommen, dass auch diverse Gesteine, Erze und Feldspat sowie Blut, Kalkstein, Pflanzenharz, Milch und Pflanzensäfte zur Farbherstellung benutzt wurden. Das aus diesen Rohstoffen gewonnene Material, vermutlich in Puderform, wurde mit Wasser, Speichel oder Fetten vermischt und anschließend mit verschiedenen Techniken auf die Wandflächen aufgetragen. Neben Pinseln aus angekauten Zweigen, Stempeln und den eigenen Fingern wurde die Farbe mit Hilfe des Mundes oder eines Röhrchens auf die Fläche gesprüht. […] Flachreliefs entstanden durch das Abmeißeln der umliegenden Fläche. Die Höhlenmaler bezogen teilweise die dreidimensionale Wirkung von Rissen und Vorsprüngen des Felsuntergrunds in das Bild mit ein (zum Beispiel in Font-de-Gaume und in der Höhle von Altamira). […] Zu den weiteren Hilfsmitteln zählen Steinlampen, die unter anderem mit Tierfett und einem Wacholderzweig-Docht Licht in die dunkle Höhle brachten, und Feuersteingeräte wie Kratzer, Stichel oder auch Klingen, mit denen die Gravierungen ausgeführt wurden. In Lascaux haben sich Spuren von Gerüsten und Seilen erhalten, doch könnten auch weitere Personen dem Maler geholfen haben, die höher gelegenen Stellen zu bemalen.“

In anderen Worten, Malen war damals noch eine arbeitsintensive Tätigkeit, die wenig Zeit zur Kreativitätsentfaltung ließ. Dabei gab es damals durchaus künstlerische Entwicklung. So heißt es weiter, dass Menschen in der Altsteinzeit bereit „perspektivisch zeichnen [konnten], verschiedene Maltechniken [beherrschten] und vermochten das Verhalten von Tieren naturgetreu wiederzugeben“.[12]

Doch Alltagskunst zeigt uns nun, wie wir materialunabhängig schöpfen:

Feinen Sand dürfte es auch zu anderen Zeiten schon gegeben haben. Die Verbesserung des Materials und seine Verfügbarkeit war also nicht alleiniger Grund für das Kunstvermögen und so zeigen uns die Malereien des Mittelalters, dass simple Methoden, die selbst 16 Jährige heute schon beherrschen, erst entdeckt werden mussten. Entdeckungen können vielleicht unabhängig vom Material gemacht werden?

Wir erweitern unsere Grenzen und nicht das Material gibt uns die Möglichkeit zu ferneren Grenzen vorzudringen. Dies fordert geradezu zu einer Kunstauffassung heraus, die die Grenzen der Kunst entgrenzt. Hinter einer solchen Grenzerweiterung verbirgt sich aber das Vermögen der Vernunft oder besser das Vermögen der Philosophie. Philosophie ist die Fähigkeit sich aus Grenzen herauszuzwingen. Philosophie entgrenzt.

Dennoch ist die Frage nach dem Material auch für die Moderne tragend. Das Buch „Das Material der Kunst. Die andere Geschichte der Kunst“

Das Buch legt wert darauf, dass im 20 Jahrhundert, die Materialvergessenheit der Kunst reflektiv eingeholt wird. Fette, Dreck, Abfälle, Flaschen alles erscheint im Horizont der Kunstbarmachung. Das Material wird als Grenze entdeckt und entgrenzt. Alles wird fließt und alles wird Kunst (siehe Kritik HU Berlin).

Boys kontert mit in der Moderne mit Fett und Filz, denn Kunst müsse sich mit Form und Material auseinandersetzen:

Gold und Marmor sind keine wertfreien Materialien. In ihnen schwingt die Angst der Vergänglichkeit menschlicher Systeme. In ihnen schwingt Habgier und das Verlangen nach besitzbarer Schönheit. Fett und Filz hingegen hängen tief mit der menschlichen Vergänglichkeit zusammen. Fett ist ein Lebensstoff. Filz das Billigmaterial für Kriege.

Was hat die Grenzen der Malerei erweitert?
Wie also ist es Menschen möglich über ihre physische Umwelt, die vorrangig aus begrenzten Ressourcen/Materialen besteht, hinauskommen? Offensichtlich begrenzt das Material nicht, wenn wir die Gesamtheit der Welt in ihrem Symbolgehalt entschlüsseln und gleichzeitig wieder in Kunst verschlüsseln. Künstler sind heute zu so vielen Kunstformen in der Lage, weil wir uns von den Materialien emanzipiert haben, vor allem indem wir uns unserer Abhängigkeit von ihnen bewusst geworden sind. Stellen wir diese Abhängigkeit in den Mittelpunkt gelangen wir über das Material durch Reflexion hinaus. Wir können mit jedem Material Kunst generieren. Hier ein Beispiel mit Ketchup.

Nun stehen wir vor einer Auswahl an milliarden Talenten die alle Zeit haben, ihre Identitäten zu bestimmen und zu erfinden. Wir katapultieren uns in eine unendlich überbietenden Kultur, in der wir nicht mehr durch körperliche Arbeit oder Arbeit überhaupt begrenzt sind. Menschheit bedeutet nun mehr und mehr Offenheit, eine Offenheit die eigenen Grenzen zu übersteigen.

Den Einwand, dass sich die großen Genies der Steinzeit uns nicht überliefert haben, ist falsch. Die Meister des Mittelalters zeichneten auch nicht diskussionsbedürftig. Sie alle sind Teil einer Öffnung des Menschen zu seiner Bestimmung als offen. Dabei haben sie in ihrer Entstehung immer schon an der Offenheit partizipiert. Nur explizit haben sie es noch nicht in dem gleichen Maße machen können. Kunst vor allem Befreiung von Arbeit. Natürlich aber haben wir es immer noch mit impliziter Kunst zu tun. Die Unterhaltungsindustrie hebt einige wenige an die Spitze, die dann die Arbeitskraft der restlichen Bevölkerung in einem luxuriösen Lebensstil akkumulieren. Hier ist der Mensch noch die Kunstwerkbanken, die wie Maschinen immer wieder und wieder wiederholen.

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Neubrandenburg, März 2019

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