In einem dunklen, dunklen Wald steht ein dunkles, dunkles Haus und in diesem dunklen, dunklen Haus ist eine dunkle, dunkle Treppe und hinter dieser dunklen, dunklen Treppe ist ein dunkles, dunkles Zimmer und in diesem dunklen, dunklen Zimmer sitzt ein alter, weißer Mann. Er sitzt neben einer Lampe, deren Schirm mit Menschenhaut überzogen ist und sein Stuhl ist aus Menschenknochen gemacht. Er grinst und zeigt dir seine gelben Zähne, während er an einem roten Telefon telefoniert. Ein altes Schnurtelefon, denn ein Handy benutzt er nicht, da er sehr wohl über die Strahlung und ihre manipulierende Wirkung Bescheid weiß. Sein Ziel: Er will Frauen unterdrücken, das Proletariat klein halten, die Gewerkschaften zerschlagen, er will ausbeuten und den Planeten zerstören. Er nimmt den Untergang der Zivilisation billigend in Kauf, denn er will nur seinen Managerbonus und dass seine Freunde noch mehr Milliarden an sich reißen. Buahahaha.
Natürlich ist diese Darstellung übertrieben und steht nicht exemplarisch für all unsere Denkweisen. Dennoch gehört die Fabrikation solcher ‚Wahrheiten‘ zum Wesen unseres Denkens. Die Welt muss auf eine verstehbare Essenz reduziert werden, um sie minimal und vor allem intuitiv diagnostizierbar zu machen. Was ist dabei eine Verschwörungstheorie? Es gibt „Eliten“, die mit den Regierungen „koopieren“, die wiederum die Menschen „anlügen“. Ich zähle allerdings auch esoterische Theorien, Impfgegner und vieles mehr dazu. Die Geschichte ist Lüge, Geld ist Schwindel, Schulden sind Fiktionen, Medien manipulieren, die BRD ist ein Unternehmen.
Eine nüchterne Beurteilung zeigt uns jedoch nur selten die Monster, die wir hinter den Verschwörungen suchen. Die größte Verschwörung der Geschichte war die Nazi-Diktatur, doch die Monster dieser wirklichen Verschwörung sind nicht so einfach zu identifizieren. Eichmanns Film Der Untergang  wurde auch deswegen kritisiert, weil er Hitler zu oft als Menschen darstellte:
Wo sind die Monster des Krieges? Über den deutschen Tötungsreferenten der Juden im zweiten Weltkrieg, Adolf Eichmann heißt es beispielsweise:
„In Adolf Eichmann sah man einen ganz normalen Bürokraten vor sich, beflissen, medioker und von sehr geringem Tiefgang. Persönliche Korrektheit, Pflichtgefühl und Karrieredenken schienen den einstigen Fahrdienstleiter des Todes viel stärker motiviert zu haben, als ideologischer Fanatismus oder niedrige Beweggründe. Er beging monströse Verbrechen, ohne ein Monster zu sein.“ (Aus Spiegel: Die Gegenwart der Vergangenheit)
Ãœber den scheinbar ‚harmlosen‘ Bürokraten schrieb daher auch Heiner Kipphardt in seinem Buch Bruder Eichmann: „Das Monster, es scheint, ist der gewöhnliche funktionale Mensch, der jede Maschine ölt und stark im Zunehmen begriffen ist.“ Es geht nicht daher nicht um Monster, sondern um Systeme.
Ab und an identifizieren wir Monster, die als Projektionsfläche für unsere moralische Ãœberlegenheit dienen. Doch der sogenannte Frankensteinismus kann die Frage nicht beantworten, warum unsere Welt ist wie sie ist: überzogen von einer menschlichen Kulturmaschinerie, die selektiv ausrottet, um es Individuen angenehm zu machen. Am Beispiel des Zweiten Weltkriegs zeigt sich jedoch, dass das „Verbrechen in zahllose, oftmals triviale Routineschritte aufgefächert war“ und dass es daher keine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Bösen gibt. Selbst wenn Hitlers Militärregime einer Weltverschwörung noch am nächsten kam, ist die Monströsität nicht so einfach. Paradox ist dabei auch, dass Hitlers Regime sich selbst gegen eine Weltverschwörung stellte.
Arendt interpretierte daher den zweiten Weltkrieg als das Resultat der „Banalität des Bösen“. Diese Interpretation wurde vielfach kritisiert, doch für Arendt war die „Zerstörung des öffentlichen Raumes als Ort freier menschlicher Verständigung über Recht und Unrecht“ die Voraussetzung für die Schrecken der Naziherrschaft. Das Böse konnte sich so banal ausbreiten, ohne aufzufallen. Das Böse ist daher nicht „radikal“. Es hat selten eine metaphysische Tiefendimension, sondern ist Resultat einer Seinsweise, vor allem, wenn einfaches Verschwörungsdenken mit unüberschaubarer Gesellschaft multipliziert wird. Das Böse kann daher „wie ein Pilz auf der Oberfläche […] die ganze Welt überwuchern“, aber es ist niemals ein drängendes Geschwür. So heißt es über Eichmann weiter „er beging monströse Verbrechen, ohne ein Monster zu sein.“
So sehr ich Ahrendt darin zustimme, dass das Böse nicht mystifiziert werden darf, so stimme ich mit Arendt nicht darin über ein, dass die „Natur des Totalitarismus“ für die Brutalität der menschlichen Zivilisation allein verantwortlich ist. Ebenso führt die freie Kommunikation nicht notwendig zu einer besseren Gesellschaft. Ich sehe viel stärker das dualistische Denken, die Welt in Böse und Gut aufzuteilen, als grundlegendes Problem. Dieses dualistische Denken wird dabei oftmals als „kritisch“ bezeichnet, weil es angeblich Umstände unserer Welt besser durchdringen würde.
Es ist daher nicht nur unser dualistisches Denken, die Einteilung in Monster und Menschen, was unseren Blick auf die tatsächliche Geschichte verstellt. Es ist gerade auch dieses dualistische Denken, dass unsere Geschichte in ihrer Problematizität verursacht. Nur weil die NS-Propaganda ein Netz aus Ideologie und Verschwörungstheorie stricken konnte, erschien es „rational“, dass „der Jude“ eine historische Schuld hätte. Unter den Vorzeichen des mechanisierten, vereinfachten Denkens, wirken Lösungen rational, die wenig mit Vernunft zu tun haben. Nur weil wir in Europa eine Verschwörung der Eliten gegen den abstrakten, einfachen Mann sehen können, ist es möglich, dass wir den Brexit für gut befinden oder das Amerikaner eine unwirtschaftliche Mauer zu Mexiko bauen wollen.
Natürlich ist die Nazi-Ideologie absurd. Dennoch aber sollten wir nicht vergessen, dass maßgebliche Intellektuelle wie Heidegger oder eben auch Juden den Nationalsozialismus unterstützten. Die Überzeichnung des Nationalsozialismus als monströse Ausgeburt des Bösen verkennt daher, inwieweit diese Strukturen in banalen Denkstrukturen begründet sind. Zwar ist der Glaube an die Judenverschwörung in unserer heutigen Zeit nicht mehr so ausgeprägt, aber das zu Grunde liegende Denken besteht noch immer. Wie sieht dieses Denken aus?
Das Problem: unser Leben ist bestimmt durch Prozesse, die wir nicht sehen können. Es gibt den Mikro-Kosmos, den subatomaren Bereich, den makrosozialen Zusammenhang, die Korrelation, die keine Kausalität ist, statistische Zufälle, vielleicht Chaos-Effekte, Gravitationswellen, Strahlung, das Mikrobiom, einen inneren Körper, kurz eine von Phänomenen verstellte, viel größere und zugleich viel kleinere Welt. Wir leben selbst nur an der Oberfläche der Oberfläche von dem, was wirklich ist. Und selbst wissen wir nicht einmal, inwieweit unsere Erfahrung tatsächlich die Realität repräsentiert. Weniger wissen als der Fall ist, gehört zum menschlichen Leben. In unserem Denken müssen wir die Welt daher reduziert verstehen. Verschwörungstheorien basieren oftmals auf einer Reihe von extremen Vereinfachungen, die dann ein bestimmtes Weltbild konstitutieren. Es ist eine Möglichkeit, die Welt zu rekonstruieren. Und schaue ich auf meine Denkgeschichte zurück so habe ich diese Phase auch durchlaufen.
Aber was ist denn nun wirklich? Es gibt natürlich Verschwörungen, aber diese beschränken sich zumeist auf einen kleinen Personenkreis und nicht auf Billionen Dollar Projekte, die Zehntausende von schweigsamen Mitarbeitern bedürfen. Gesellschaftliche Ereignisse sind stattdessen oftmals Resultate von Millionen von Akteuren, die interagieren, verschiedene Beziehungen pflegen, verschiedene Interessen haben und sich alle aufeinander beziehen. Diese Ereignisse finden nicht nur in einem Jetzt-Moment, sondern über Wochen, Monate und manchmal Jahre hinweg statt. Dies alles verschärft die Schwierigkeit, das wirkliche Problem zu identifizieren. In der Betrachtung fehlen uns dann Zusammenhänge, Quellen sind fragmentarisch und Aussagen von Zeugen nicht zuverlässig, die Ereignisse sind zu lang, sind zu viele und haben zu viele Einflussfaktoren. Zudem sind sie multikausal, das heißt, es gibt nicht nur einen Grund, sondern mehrere Ursachen. Wer glaubt dieses alles in einer einheitlichen Theorie zu belegen, der ist nicht zu belehren.
Meine Geschichtslehrerin hat hier immer betont, dass wir fragen müssten „Qui Bono“, zu deutsch „wem nützt es“. Diese Herangehensweise ist vollkommen falsch. Nur weil es jemanden nützt, bedeutet es nicht, dass er es bewirkt hätte oder dass er es gewollt hätte. Die Wende hat mir zum Beispiel genützt, später in den USA zu studieren. Dies heißt aber nicht, dass ich sie bewirkt oder gewollt hätte. Nehmen wir nun an, der Pharmaindustrie nützt es, wenn Menschen krank werden. Heißt das nun, dass sie deren Krankheiten bewirken oder wollen? Kann, aber noch wichtiger, es muss nicht so sein. Wir können ebenso davon ausgehen, dass in der Pharmaindustrie Menschen arbeiten, die auch positive Dinge bewirken wollen. Ich habe viele Angestellte von Bayer, die in der Unternehmensführung arbeiteten, kennengelernt und der Mann mit den gelben Zähnen war da nicht dabei. Warum aber unterstützt die Pharmaindustrie nicht die Entwicklung von Arzneien, an denen sie nichts verdienen? Nun, es handelt sich um ein Unternehmen, das sich auch immer dem Risiko aussetzt Pleite zu gehen.
Dennoch sollten wir Verschwörungstheorien nicht aufgrund ihrer Absurdität ablehnen, denn die Wahrheit kann manchmal absurd sein. Ähnlich wie über die Absurdität des Nazisystems, denken wir nun über Flat-Earther, Chemtrail-Verschwörungstheoretikern und Impfgegner. Alles Unfug. Doch es ist nicht Unfug, weil die Theorien prinzipiell nicht wahr sind. Sie sind Unfug, weil sie reduzieren. Verschwörungstheorie ist daher verbunden mit einer minderen Form der Psychose, die uns selbst jedoch auch sehr leicht befallen kann. Wir machen alle den Fehler, unsere eigenen Theorien ernster zu nehmen, als sie wirklich sind. Bei Verschwörungstheorien fällt es uns nur als derart absurd auf, weil es so sehr der Mainstream-Meinung widerspricht. Wo aber verbreiten wir selbst Unfug?
Kennedy? Klar von Oswald getötet! Maidanrevolution? Die Amerikaner! Vollmondsensibilität? Ja, wir schlafen dann doch schlecht. Handystrahlung? Na, das spürt man doch! Venezuela? Ölindustrie! Irak? Waffenindustrie!
Aber es geht nicht nur um politische oder esoterische Themen. Oftmals unterstellen wir unserem Partner, unseren Kindern oder anderen Menschen gezielte Böswilligkeit. Wir glauben, dass bestimmtes Essen uns krank macht, dass wir an Krankheiten leiden oder dass wir bestimmte Konsumgüter für unser Leben bräuchten. Wir glauben, dass wir frei sind, dass wir als Angehörige einer Minderheit unterdrückt werden oder dass uns bestimmte Personen Böses wollen. Wer aber hat sich bei aller Ehrlichkeit nicht selbst schon unangenehm korrigieren müssen?
Wir glauben nun Verschwörungstheorien sind psychotische Ideologien, die gegen den rationalen Verstand verstoßen. Dies ist wahr, aber wir sind ebenso befallen. Der Trend zur Verschwörungstheorie macht nicht allein bei Flat-Earthern und Impfgegnern halt. Wer hier dualistisch denkt, verkennt, dass er selbst Teil dieser Struktur ist. Wie also damit umgehen?
Verschwörungstheoretiker, auch wenn sie sich selbst nicht mehr so bezeichnen möchten, betonen häufig, dass sie schließlich nur kritisch beobachten. Diese Annahme ist leider oftmals falsch. Kritisches Denken bedeutet etwas anderes, als wir mittlerweile annehmen. Es bedeutet den Verstand mittels des eigenen Verstandes zu prüfen und nicht alles Weltgeschehen erst in den Nebel des Skeptizismus zu hüllen, um dann selbsterhöhtes angeblich „eigenes Denken“ als die Wahrheit darzustellen. Kritisches Denken bedeutet daher nicht unbedingt Autoritäten zu hinterfragen und den Staat selbst anzuzweifeln. Hegel, zu einer Zeit als Verschwörungstheorien generell Mainstream waren, erkannte bereits, wie der Konflikt zwischen Individuum und Staat immer dialektisch bestehen bleibe. Der Staat muss Zerfallstendenzen aufhalten und bewahren, das Individuum muss Totalitätsansprüche abwehren. Der Staat existiert als Unterdrücker, weil Individuen zu viele Freiheiten wollen, die der Gemeinschaft schaden, die er bewahren will. Das Individum wiederum existiert, weil der Staat in seiner Instutition als Bewahrer zu totalitär wird. Fallen beide Seiten jedoch weg, gibt es weder den Staat, noch kann das Individuum existieren. Anstatt an dieser Struktur zu zweifeln, müssen wir sie soziologisch genauer verstehen und erst dann können wir sie zielgenau hinterfragen. Es kann daher auch nicht darum gehen, direkt über den Flat-Earther, Impfgegner, AfD oder DieLinke-Wähler, Kommunisten oder Kapitalisten zu lachen, sondern es geht darum, eine kritische Position des Denkens zu erreichen, die gerade diese Dialektik in den Dingen erkennt. Was heißt das aber konkret?
Wir müssen verstehen, wie wir denn große gesellschaftliche Gebilde verstehen können. Die Frage nach dem Wissen ist Aufgabe der Philosophie. Sie soll uns dabei helfen, Wissen als Wissen auszeichnen zu können. Die Frage „Qui Bono“ ist dabei kein Garant für Wissen.
Als Philosoph kann es daher nicht der vermessene Anspruch einer Journalistentradition sein: „Sagen, was ist.“ Vielmehr geht es zunächst darum zu sagen, was nicht ist. Wenn wir diesen Weg gehen, werden wir nicht die Wahrheit über unsere Gesellschaft herausfinden. Wir werden auch nicht wissen, welche Verschwörungstheorien direkt falsch sind. Es geht nicht darum nachzuweisen, dass diese alle falsch sind. Dennoch aber werden wir weniger Verschwörungstheorien glauben, weil sie eben auch nicht das Kriterium des Wissens erfüllen. Es bedeutet, weniger an abstrakte Mechanismen zu glauben, die wir nicht verstehen können. Dies macht uns am Ende frei, zu verstehen, was wir verstehen können. Und tatsächlich gibt es da so einiges: Oftmals ist es zwar weniger spektakulär und manchmal ist es ernüchternd, aber immerhin finden wir hier einen solideren Grund, der unser Leben einfacher machen wird als Individuum und als Gesellschaft.
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Neubrandenburg, März 2019
Bildattribution Titelbild: ErikvanWees [CC BY-SA 3.0 (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)]